Per Anhalter (German Edition)
Momenten sehnte er sich nach Berührungen durch sie, doch wenn sie erst da waren, dann fühlten sie sich an, als klebte Dreck an ihr. Dreck oder Creme. Creme war ganz besonders schlimm. Wenn es etwas gab, was er wirklich verabscheute , dann war es, wenn jemand ihn eincremte. Dabei wurde ihm so richtig schlecht.
„Ich habe viele Fehler gemacht, mein kleiner Liebling. Viele, viele Fehler. Einer davon sitzt hier, auf deinem Arm. Sie ist ein so falsches Kind . Der Teufel selbst hat sie gezeugt.“,
„Aber vielleicht können wir ja. Sie so machen wie wir… Mommor.“, sie schüttelte den Kopf.
Mit einem unendlichen Reichtum an Verständnis. „Gib sie mir“ flüsterte sie und stupste ihn mit der Nasenspitze an. Selbst ihr Gesicht roch nach Blut. Nach Blut und nach kaltem Zigarettenrauch. Er wusste genau, was sie vorhatte, und in diesem Moment liebte und hasste er sie gleichermaßen. Doch vor allem fürchtete er sich vor ihr.
„Mommor… Vivi möchte ich aber behalten. Bütte. Bütte!“,
„Schhhhht.“,
„Mommor…“,
„Schhhht! Gib sie mir!“ Ihr Flüstern war eine Frucht der Hölle. Und wenn er sie jetzt noch weiter festhielt, die kleine Vivi, dann würde diese Frucht aufplatzen. Eine Frucht voller Würmer. Voll beißender Würmer. Sie würde glühen , sie würde schreien, sie würde ihn schlagen. Er sah es ganz genau, in jedem einzelnen Gesichtszug. Es fehlte nicht mehr viel. Ihr Gesichtsausdruck verkündete eine einzige Botschaft: Lass dieses Kind los. Augenblicklich. Sonst tut es dir leid. Es wird dir sehr, sehr leid tun. ENTTÄUSCH MICH NICHT!
Ein letztes, klar gesprochenes „Mama“ entwich ihm wie ein Seufzer, doch da hatte sie sie bereits in ihren Händen. Ihre Augen fixierten Vivis Gesicht.
Er hörte das kleine Mädchen erwachen, ihr leises Weinen. Sie verbrannte bereits in Mamas Händen. Und wenn nicht dort, dann spätestens in ihren Augen. Mama hielt sie vor sich hoch, die Hände an ihre Seiten gelegt. Ihr Mund stand einen spaltbreit offen. Sie hielt sie von sich, als wäre sie tatsächlich giftig, als ob man besser wirklich nicht zu tief einatmete…
Dann rutschte Mama vom Sitz. Geschmeidig und elegant.
„Du Verräterin“ hörte er sie draußen wispern, woraufhin Vivi ihr einen jähzornigen Schrei – nur einen einzigen – entgegen spie. UÄÄOO machte sie, und war auf der Stelle wieder still. Er vermutete, dass Mama sie irgendwo massiv gedrückt hatte und dann, mit welchem Mittel auch immer, dafür sorgte, dass sie wieder still wurde. Was hatte es ihm doch für einen Spaß gemacht, Hassan abzuschlachten. Mit wie viel diebischer Freude hatte er an diesem bedeutsamen Erlebnis teilgenommen. Und wie schrecklich war gleichzeitig das hier…
Nein, es gab keinen logischen Grund dafür, aber er hatte Vivi lieb. Er mochte sie. Sie war niedlich und wunderbar verschmust. Sie war seine Schwester . Viel mehr als Sonja in all den Jahren je seine Schwester war.
Alles begann sich zu drehen. Er sah Papa, er sah Uwe ( „Uwe ist heute gestorben…) , Sonja… Sogar David… Lisa und Nina (wohl weil sie am Seeufer standen…)… Uwe und Papa mit Lisa und Nina… Er sah Hassan… Er sah Mamas Augen… Roch ihren Atem und das Blut, dass sie mit ihren Händen auf seiner Haut hinterlassen hatte… Er sah sich und Papa… Uwe bei einem seiner Lachflashs, wenn er gekifft hatte… Er sah David und spürte Hass … Er sah nach draußen... Dunkle Konturen, Mama ging rückwärts, noch immer mit Vivi auf den Armen. Er wollte wegsehen… Er wusste, was kommen würde, beziehungsweise er ahnte etwas… Ahnte so viel… Alles drehte sich… Alles… Ihm wurde übel… so viele Erinnerungen – auf einmal quollen sie hoch… Von draußen ein erstickter Schrei… Nicht hinsehen , zwang er sich und aus beiden Augen schossen gleichzeitig Tränen… Nicht hinsehen, nicht hinsehen…
Ein dumpfes Geräusch – er sah hin. Schluckte. Noch ein dumpfes Geräusch. „UÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ“ – das war Vivi – „ Du miiiese Verräterin “ – Das war Mama. „UÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ“ – das nächste dumpfe Geräusch. Lasse sah nur noch Schwärze, keine Erinnerungen, keine Bilder mehr im Kopf. Draußen sah er noch die Konturen. Vivis Schreien schwoll dermaßen an, dass er sich die Ohren zuhalten musste. Ein weiterer Schwall dünnflüssiger Tränen schoss heraus. Dann ein dumpfes POCK, dass er sogar hörte, obwohl er sich die Ohren zuhielt. Er hörte auch den Schrei, obwohl er sich die Ohren
Weitere Kostenlose Bücher