Per Anhalter (German Edition)
wirklich tat.
David war längst nicht mehr er selbst. Aus seinem Mund hingen Grashalme heraus und sein Antlitz war über und über voll mit Sommersprossen aus dunklen Erdkrümeln. Ein Käfer krabbelte an seinem Nacken entlang, suchte verzweifelt nach einem Weg, von ihm herunter zu kommen. Das Krankenhausnachthemd war mit grünen Grasflecken, Erdreich, Blut und Erbrochenem verunstaltet. Nach und nach lösten sich die Halme von seinen Lippen. Sie wurden mit zähen Fäden klumpigen Speichels hinfort gespült. Dreckiger Humus klebte in seinen verwundeten Handflächen. Seine Haare (die vor Fett und Schweiß nur so trieften) standen in alle Richtungen ab. Er hatte nichts mehr mit dem jungen Mann gemeinsam, der vor ein paar Tagen mit dem Fahrrad zur Autobahn fuhr, mit der innigen Hoffnung, ein bisschen Liebe zu erfahren und sein „erstes Mal“ zu erleben.
Er war ein anderer geworden, nicht nur körperlich.
David Gimm war zerstört, und jetzt, in diesen Sekunden, zerbrach er vollends.
Körperlich abgewrackt, unzweifelhaft, doch nun war er auch auf psychischer Ebene zerstört.
Er verlor den Bezug zur Realität… Noch einmal biss er herzhaft und voller Gier in das verdorrte Gras. Und nun war er es, der zu lachen anfing. Gemeinsam mit seiner Mutter…
***
Und schon wieder fing Mama mit derselben Leier an. Mittlerweile hatte er es doch begriffen. „Wir müssen den Gürtel erstmal ein bisschen enger schnallen, jetzt wo dein Vater uns beklaut hat. Die ganzen Reserven hat er mitgenommen, dieses alte Schwein. Eins sag ich dir, wenn ich je wieder einen Mann habe, dann werde ich das Geld aber ganz für mich aufbewahren. Solche Schweinehunde . Das können wirklich nur Männer machen. Ich werde mir was einfallen lassen, aber erstmal müssen wir sehen, wie wir das machen. Gibt also nix außer der Reihe, nur damit du das schon mal weißt.“
Wieder nickte er artig und verständnisvoll. Es war das Beste so, denn er wollte um jeden Preis verhindern, dass sie wieder so wurde, wie gestern Nachmittag.
Ja, er hatte wirklich Angst vor ihr gehabt und die steckte noch immer tief in seinen Knochen. Verarbeitet hatte er all das, was geschehen war, absolut noch nicht. Es war viel zu viel. Es wurde immer wieder hochgespült, als läge es am Grunde eines Sees, wo hin und wieder ein Fisch vorbei kam, der mit seiner Schwanzflosse den Dreck aufwühlte. Uwe war tot, Papa war einfach abgehauen und Sonja war ebenfalls weg. Wie sollte er all das auch so schnell verarbeiten? Es war sein ganzes Leben, seine Kindheit, die auf einmal vorbei war. Was immer er je gehabt hatte, es war weg. Selbst Sonja, die er eigentlich hasste wie die Pest, fehlte ihm auf groteske Weise. Es war einfach zu viel, um es zu begreifen. Viel, viel zu viel.
Und alles so plötzlich. Außerdem fehlte ihm die Zeit, das alles gedanklich durchzunehmen, denn, wie gesagt, Mama machte ihm zusätzlich Angst. Er musste extrem aufpassen, dass er nichts Falsches sagte. Dann würde sie womöglich wieder völlig abdrehen.
„Hab ich doch gut gemacht mit David, oder Mama?“ hatte er sie gestern gefragt.
Okay, der Zeitpunkt war vielleicht auch wirklich schlecht, aber ihre Reaktion war auch ganz schön daneben. Sie hatte ihm eine runtergehauen und geschrien: „Gut gemacht nennst du das? Dann tust dir mir Leid! Sieh dich mal um du tumpiges Kind, und sag noch ein einziges Mal , du hättest es gut gemacht!“ Er war daraufhin stocksteif geworden. Er spürte eine Enttäuschung von solch brutalem Ausmaß, dass ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke wegblieb. Mit dieser Reaktion hatte er beim besten Willen nicht gerechnet! Es war drunter und drüber gegangen. Mama hatte alles in einem Tempo gemacht, bei dem er bei aller Liebe nicht mithalten konnte. Es ging so rasend schnell, dass er noch nicht einmal mehr die genauen Abläufe zusammen bekam. Am deutlichsten war ihm der gigantische, imposante Feuerball im Kopf geblieben, als die Wohnwagen ausbrannten. Die Wohnwagen, die seine Heimat, die seine Kindheit darstellten. Es war ungeheuer schmerzhaft und aufregend zugleich. Irgendwann hatte sie ihm das Ohr umgedreht und ihn hinter sich her gezogen.
„DA REIN!“ schrie sie und als nächstes saß er im Auto. David lag hinten. Die weinende Vivi ebenfalls. Mitten in einem großen Haufen wüst zusammengeworfener Überbleibsel aus den Wohnwagen. Vivi und David sahen aus, als hätte sie sie dazwischen gestopft…
Mama hatte unentwegt ihr Handy am Ohr und rauchte eine Zigarette nach
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