Per Anhalter (German Edition)
Robert Plaschke noch vor Jahresende bereuen sollte. Der Fall Bennecke sollte für lange Jahre der letzte Fall sein, den er bearbeitete. Ihm offenbarten sich Eindrücke von seelischen Abgründen und die tatsächlichen Ausmaße des Falles waren das grausamste, was er je erlebt hatte.
Er bekam Eindrücke, die kein Mensch einfach so wegstecken kann. Auch ein Polizist nicht. In jedem Fall nicht Robert Plaschke. Noch vor dem eigentlichen Prozessbeginn warf er alles hin.
Die verwesten fauligen Überreste von einem halben Dutzend Kindern, die im Laufe der fortschreienden Ermittlungen gefunden wurden, verfolgten ihn bis in seine Träume. Bald gab es keine Nacht mehr, in der er nicht schweißgebadet aufschreckte, den Geruch von modriger Fäulnis in der Nase, Kinderkleidung an Skelettierten Überresten vor den inneren Augen, die kein noch so friedlicher Gedanke auszuradieren vermochte.
Der endgültige Nullpunkt war erreicht, als sie die Babyleiche aus dem See fischten. Die Überreste von Lea Sophie Schreiber, aufgedunsen und weitgehend konserviert durch das Wasser. Fische schwammen in ihrem zerfetzten Babykopf herum, der Mund schien vom letzten verzweifelten Schrei, den sie in ihrem jungen Leben ausgestoßen hatte, noch geöffnet zu sein… Und ausgerechnet hier musste er den Eltern die traurige Nachricht überbringen. Die unfassbare Nachricht. Diese ungerechte Nachricht!
Herr und Frau Schreiber waren ein gut situiertes junges Ehepaar. Beide Lehrer.
Sie lebten in einem schicken, neu gebauten Einfamilienhaus am Stadtrand von Lübeck.
Frau Schreiber war blond, trug eine Brille, war zierlich und hübsch. Er war groß und recht kräftig gebaut. Himmel, er würde nie den Tag vergessen als die junge Frau ihm die Türe öffnete. Wie sie sich krümmte und rückwärts ging, über das Schuhregal stolperte und schreiend auf dem Boden lag. Ihr Mann, völlig ratlos, stand nur daneben und schaute abwechselnd ihn und seine Frau an. Er war erstarrt in seinem Schock, zuckte mit den Schultern, gestikuliere eigenartig mit seinen Händen und sagte, „Wir haben uns das schon gedacht, aber wissen Sie. Ist doch… schwer!“
Und Bennecke… Diese blöde Fotze… Für sie war das alles nur ein notwendiges Übel. Mal redete sie, mal redete sie nicht. Schuld waren immer die anderen. Die Kinder hätten sie „betrogen“, seien „ungerecht“ und „undankbar“ gewesen.
„Der Türke müsste noch im Wald liegen.“,
„Ja, den kenne ich auch. Er hat sich auch einfach verpisst!“,
„Michael war selbst Schuld! Er ist der schlimmste Betrüger von allen gewesen. Ich hab keine Ahnung wo er genau liegt…“
Sie skizzierte nur vage, aber sie wurden fast immer fündig.
Auf die Frage, ob sie ihre Taten bereute, antwortete sie vollkommen entrüstet: „Wieso sollte ich? Dafür gibt’s keinen Grund! So behandelt man keinen Menschen der einem Gutes will.“
Wie hätte er das wegstecken sollen? Keine Krisenintervention der Welt konnte dieses Leid kompensieren, das sich in seinen Kopf eingebrannt hatte.
All diese kleinen, toten Geschöpfe und das Monster, das sie auf dem Gewissen hatte.
Des Weiteren fehlte von ihrem Komplizen bislang jede Spur und sie äußerte sich in der Hinsicht überhaupt nicht. Einer von ihnen war ums Leben gekommen, dafür zeichnete der ehemalige Rechtsanwalt Wolfgang Schlesinger verantwortlich (er war Plaschke ein Begriff. Der Mann war bekannt wie ein bunter Hund). Auch beim Auffinden seiner Leiche war Plaschke dabei gewesen.
Er hatte in seinem ganzen Leben zusammengenommen noch nicht so viele tote Menschen gesehen, wie in diesen knapp vier Monaten Ermittlungsarbeit.
Es war kein Wunder und es nahm ihm keiner Krumm, dass er am Ende seiner psychischen Kräfte war.
Zugegebenermaßen etwas reißerisch, jedoch sehr treffsicher, brachte eine große deutsche Tageszeitung seinen Absturz auf den Punkt:
Depressionen – Albträume – Burn out
Das Monster zerstört ein weiteres Leben
Kapitel 19
Heimkehr. Ein gutes Gefühl. Eigentlich. Doch er fühlte sich einfach nur gehemmt.
Da hingen keine Girlanden die seine Ankunft freudig plakatierten. Es gab auch keine Luftballons, Luftschlangen oder einen Konfettiregen als er die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Und nein: Er hatte es auch nicht erwartet.
Er hörte die Schritte seiner Mutter hinter sich, während er vor der Zimmertür stand.
Klock – Klock – Klock. Und als sie in der Küche ankam hörten sich ihre Schritte an, als hätte sie etwas
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