Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville

Vom Netzwerk:

Bordingenieur, der die Sichtung nicht meldete, sondern eine unheilabwehrende Gebärde machte und flüsternd zu Solenton um Schutz betete.
    Gefangen in den Aufwinden, überflutet von den Sinnesreizen der Perdido Street Station, ließ die Kreatur sich emportragen, bis sie hoch, hoch über der Stadt schwebte. Sacht die Flügel hebend und senkend, drehte sie sich langsam im Kreis, machte sich vertraut mit ihrem neuen Revier.
    Sie witterte die Pfade der Flüsse. Sie witterte die Emanationen unterschiedlicher Energien aus den verschiedenen Bezirken der Stadt. Sie empfand die Stadt als eine stroboskopische Folge von Wahrnehmungen. Nahrung zuhauf. Unterschlupf.
    Noch etwas suchte die Kreatur. Artgenossen.
    Sie war ein soziales Wesen. Als sie zum zweiten Mal geboren wurde, geschah es mit dem Bedürfnis nach Gesellschaft. Sie entrollte die Zunge und schmeckte in der unreinen Luft nach anderen, die so waren wie sie selbst.
    Das Ding erschauerte.
    Schwach, nur wie ein Hauch, wehte von Osten etwas heran.
    Es schmeckte Frustration. Seine Flügel bebten empathisch.
    Es kehrte um und flog zurück in die Richtung, aus der es gekommen war. Diesmal hielt es sich etwas mehr nach Norden und überquerte die Parks und eleganten alten Villen von Gidd und Ludmead. Nach Süden hin bäumten sich die Rippen gewaltig in die Nacht, und die Kreatur verspürte ein Unbehagen, eine Angst in der Nähe dieser gigantischen Knochen. Die Macht, die sie in den Himmel atmeten, behagte ihr ganz und gar nicht. Doch ihr Widerwille geriet in Konflikt mit dem tief verwurzelten Gefühl der Zugehörigkeit zur eigenen Art, deren Witterung sie in die Aura des urzeitlichen Skeletts lockte.
    Das Wesen strich über den Dächern dahin. Es näherte sich seinem Ziel auf Umwegen, von Nordosten her. Fast ohne Flügelschlag glitt es unter der Trosse hindurch, die sich vom Milizturm in Mog Hill zu dem in Chnum spannte. Es folgte wie ein Schatten einem nach Osten fahrenden Zug auf der Dexter Line, getragen von dessen übel riechenden Aufwinden. Dann schwang das Geschöpf in einem weiten Bogen um den Mog-Hill-Turm und über den nördlichen Rand von Echomires Industriegebiet. Es näherte sich Bonetowns Stelzenbahn, scheute vor dem Miasma der Rippen, aber die Witterung seiner Artgenossen zog es unwiderstehlich an.
    Die Kreatur huschte von Dach zu Dach, witterte mit der schlenkernden Zunge. Gelegentlich ließen die von ihren Flügelschlägen verursachten Böen späte Fußgänger aufblicken, wenn Hüte und alte Zeitungen durch die verlassenen Straßen geweht wurden. Gewahrten sie den schwarzen Schatten, der über sie hinwegglitt, zogen sie fröstelnd die Schultern hoch und gingen eilig weiter, oder sie runzelten die Stirn und redeten sich ein, sie hätten nicht gesehen, was sie gesehen hatten.
    Die Kreatur schleckte die Luft, während sie suchende Kreise zog. Sie benutzte ihre Zunge wie ein Spürhund seine Nase und leckte sich an einer schwachen Witterung entlang über die undulierende Dächerlandschaft, die sich der Wölbung der Rippen anzupassen schien.
    Dann geriet sie in den Sog eines großen, schwarzen Gebäudes in einer menschenleeren Seitenstraße, und die lange Zunge schnalzte wie eine Peitschenschnur. Das Wesen schlug kraftvoll mit den Flügeln, stieg in die Höhe und glitt in einem eleganten Bogen auf das geteerte Dach hinunter. Dort hinten, am entgegengesetzten Ende, quollen die Gefühle von seinesgleichen aus dem darunter liegenden Raum herauf wie Salzwasser durch einen Schwamm.
    Die Kreatur hangelte sich mit ihren unbeschreiblichen Gliedmaßen über die Schindeln, dabei sandte sie emotionale Botschaften aus, und es gab einen Augenblick der Verwirrung, als ihre gefangenen Artgenossen auf sie aufmerksam wurden. Dann schlug der diffuse Jammer um in Willkommen und Freude und die Forderung, befreit zu werden, vermischt mit kalten und präzisen Anweisungen, wie das zu bewerkstelligen sei.
    Das Wesen erreichte die Dachkante und arbeitete sich halb flatternd, halb kletternd hinunter zu einem verschlossenen Fenster, zwölf Meter über dem Straßenpflaster. Die Scheiben waren geschwärzt, sie vibrierten kaum merklich in unirdischen Dimensionen, in Schwingung versetzt von den telepathischen Emissionen aus dem Raum dahinter.
    Das Ding auf dem Sims kratzte einen Moment suchend an dem Fenster entlang, dann riss es mit einem heftigen Ruck den Rahmen aus der Mauer. Es ließ die Trümmer fallen, die mit ohrenbetäubendem Klirren unten zerschellten, und schob sich in den stockfinsteren