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Perdido Street Station 01 - Die Falter

Perdido Street Station 01 - Die Falter

Titel: Perdido Street Station 01 - Die Falter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: China Miéville
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Schwingen vor. Sie waren weder mit Haut noch mit Federn, Stoff oder Leder bespannt; sie taugten nicht als Gleitapparat. Sie waren nichts als eine Vortäuschung falscher Tatsachen, ein Gerüst für Yaghareks unverhältnismäßigen Umhang, damit es aussah, als hätte er Flügel.
    Isaac streckte die Hand aus. Yagharek machte eine abwehrende Bewegung, dann zwang er sich, die Berührung zu dulden.
    Isaac schüttelte fassungslos den Kopf. Er erspähte wulstiges Narbengewebe an Yaghareks Rücken, bevor der Garuda sich ihm schroff wieder zuwandte.
    »Warum?«, fragte Isaac tonlos.
    Yagharek kniff die Augen zusammen, sein Gesicht verzerrte sich zu einer tragischen Maske. Ein dünnes, ganz und gar menschliches Wimmern drang aus seiner Kehle, wurde lauter und lauter, steigerte sich zu dem Jagdruf eines Raubvogels, durchdringend und monoton, melancholisch und einsam, aus dem sich kaum verständliche Worte formten.
    »Dies ist meine Schande!«, schrie Yagharek. Er verstummte, dann wiederholte er ruhig: »Dies ist meine Schande.«
    Er löste die Schnallen des sperrigen Holzgerüsts, und es fiel klappernd zu Boden.
    Sein Körper, nackt bis zur Taille, war grazil und sehnig, von einer gesunden Hagerkeit. Ohne die klobige Masse der falschen Flügel wirkte er schmächtig und verwundbar.
    Er drehte sich langsam herum, und Isaac hielt den Atem an, als er die Narben, eben nur flüchtig gesehen, nun deutlich vor Augen hatte.
    In das Fleisch über Yaghareks Schulterblättern waren zwei lange, senkrechte Furchen gekerbt, rotes Narbengewebe, das zu brodeln schien, gesäumt von Einschnitten, die wie kleine Adern von den zornigen Wundmalen ausstrahlten. Die Bahnen Versehrten Fleisches rechts und links an seinem Rücken waren 45 Zentimeter lang und bis zu zehn Zentimeter breit. Isaac verzog unwillkürlich das Gesicht: Die schartigen Gräben waren durchzogen von einem Zickzack grober Rissspuren, die ihm verrieten, man hatte die brutale Verstümmelung mit einer Säge vorgenommen. Nicht ein einzelner, rascher, sauberer Schnitt, sondern eine lang dauernde, grausame Tortur. Er wand sich innerlich.
    Verknorpelte Knochenenden wanderten suchend unter einer dünnen Gewebsschicht; kastrierte Muskeln ballten und streckten sich in obszöner Sichtbarkeit.
    »Wer hat das getan?«, flüsterte Isaac und dachte dabei: Die Geschichten sind wahr! Der Cymek ist ein wildes, wildes Land.
    Es dauerte lange, bis Yagharek antwortete.
    »Ich – ich habe das getan.«
    Im ersten Moment dachte Isaac, er hätte sich verhört.
    »Was meinst du damit? Wie zum Teufel kannst du …?«
    »Ich habe mir das angetan«, schrie Yagharek. »Das ist Gerechtigkeit. Ich war es, der mir das angetan hat.«
    »War das die Strafe für irgendwas? Gottschiet, verdammich, was könnte so schlimm … Was hast du verbrochen?«
    »Maßest du dir an, Garuda-Recht zu kritisieren, Grimnebulin? Wenn ich das höre, muss ich an die Remade denken …«
    »Dreh mir nicht das Wort im Mund herum! Du hast absolut Recht, und das Gesetz in dieser Stadt ist auch mir zuwider … Ich versuche nur zu verstehen, was dir passiert ist.«
    Yagharek seufzte und ließ auf eine bestürzend menschliche Art die Schultern sinken. Als er sprach, tat er es leise und gequält, mit großer Überwindung.
    »Ich war zu abstrakt. Ich war keiner Achtung würdig. Mich überkam – eine Tollheit. Ich war toll. Ich beging ein schändliches Verbrechen, eine schändliche Tat …« Die Worte lösten sich auf in Klagelaute eines Vogels.
    »Was hast du getan?« Isaac wappnete sich gegen das Bekenntnis einer unaussprechlichen Gräueltat.
    »Diese Sprache hat keine Worte für mein Verbrechen. In meiner Zunge …« Yagharek schwieg und überlegte. »Ich werde versuchen zu übersetzen. In meiner Zunge sagten sie, und sie hatten Recht, ich wäre schuldig des Entscheidungsraubs – des Entscheidungsraubs im zweiten Grade – mit absoluter Missachtung.«
    Yaghareks Blick irrte wieder zum Fenster. Er hielt den Kopf hoch erhoben, vermied es aber, Isaac in die Augen zu sehen.
    »Das ist der Grund, weshalb sie mich für Allzu Abstrakt erklärten. Deshalb bin ich keiner Achtung mehr würdig. Das ist, was ich jetzt bin. Ich bin nicht mehr Konkretes Individuum und Respektierter Yagharek. Ihn gibt es nicht mehr. Ich habe dir meinen Namen genannt und meinen Titel. Ich bin Allzu Abstrakter Yagharek Keiner Achtung Würdig. Das ist er, der ich von nun an und auf ewig sein werde, und ich bin wahrhaftig genug, es dir zu offenbaren.«
    Der Garuda ließ sich

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