Perlentod
deshalb alleine mit ihrem Vater in einer so kleinen Wohnung lebte. Senta spürte, wie die Wut auf die Clique in ihr immer stärker wurde.
»Wir müssen diesen Kriminellen endlich das Handwerk legen!«
»Ja, nur wie?«, stellte Rebecca die entscheidende Frage. Wie genau war Senta auch noch nicht klar, aber sie hatte schon eine Idee.
Pünktlich um acht stand Mo auf der Matte – mit Werkzeug und zwei neuen Bowdenzügen unter seinen braun gebrannten Armen. Sentas Mutter war hellauf begeistert: »So ausgezeichnete Nachbarschaftshilfe hat es in meiner Jugend in Harting nicht gegeben.« Vor lauter Dankbarkeit bot sie Mo gleich ein Bier an. Senta, der das Verhalten ihrer Mutter peinlich war, beeilte sich, Mo wieder aus dem Haus zu lotsen.
»Meine Mutter ist manchmal ein bisschen übertrieben gut drauf«, entschuldigte sie sich.
»Kein Problem«, lachte Mo und folgte Senta zum Schuppen.
»Es ist wirklich supernett von dir, dass du mir das Rad reparierst. Ich wüsste gar nicht, wie ich sonst in die Schule kommen soll. Zu Fuß braucht man mindestens vierzig Minuten.«
»Hübschen Töchtern von Vätern mit zwei linken Händen muss doch geholfen werden«, witzelte Mo und wies Senta an, das Fahrrad zu halten. Mit geröteten Wangen kam sie seiner Aufforderung nach. Außer »Halt mal« oder »Gib mir mal den Maulschlüssel« verlief die Reparatur schweigend. Senta beobachtete Mo verstohlen von der Seite. Fasziniert stellte sie fest, wie jedes Mal, wenn Mo sich konzentrierte, eine kleine Falte auf seiner Stirn erschien und sich seine Zungenspitze leicht zwischen die geschlossenen Lippen schob. Ab und zu entwich ihm ein leises »Verdammt« oder »Kacke«, doch wenn Senta nachfragte, war seine Antwort immer: »Alles okay.«
Nach gut zwanzig Minuten war er fertig und schwang sich für eine Testrunde auf Sentas Fahrrad. Mo griff so stark in die Bremsen, dass er mit dem Hinterrad abhob.
»Jetzt kannst du jede rote Ampel küssen«, kommentierte er sein Werk.
»Vielen, vielen Dank«, rief Senta begeistert. »Machst du so was öfter?«
»Klapprige Mädchenfahrräder von Heulsusen repariere ich normalerweise nie«, erwiderte Mo breit grinsend und Senta sah, wie sich auf seiner rechten Wange ein kleines Grübchen bildete. Genau wie bei Riko! Sie schluckte und ihre schlagfertige Antwort blieb ihr im Hals stecken.
»Du bekommst sicher noch Geld für das Material«, sagte sie schnell, um sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen.
»Nö«, wehrte Mo ab. »Lieber lasse ich mich von dir zu einem großen Eis einladen.«
»Aber sicher doch«, beeilte sich Senta zu antworten, der es peinlich war, nicht selbst darauf gekommen zu sein.
»Sonntagnachmittag hätte ich Zeit«, schlug Mo vor.
»Dann also bis Sonntag«, antwortete Senta und begleitete ihn noch Richtung Gartentor.
»Stell dein Rad in der Schule immer neben dem Hausmeisterkiosk ab«, rief Mo ihr noch zum Abschied zu.
Senta hatte Angst einzuschlafen. Der Albtraum vom Nachmittag hielt sie am Abend wach. Was, wenn sie wieder von dem Unfall träumte oder von der Mutprobe. Denk an was anderes, versuchte sie, sich einzureden. Doch es war sinnlos. Immer wieder kamen ihr Rebecca und die Clique in den Sinn. Unglaublich, was sie ihr auf dieser Klassenfahrt angetan hatten. Vermutlich hätte die Mutprobe im Spritzenhaus ähnlich geendet, wenn…
Um sich abzulenken, stand Senta auf. Zielstrebig ging sie zum Schreibtisch, holte das Tagebuch aus dem Geheimfach und kuschelte sich damit wieder in ihr Bett. Während sie die alten Seiten durchblätterte, landete plötzlich ein Schwarz-Weiß-Foto auf ihrer Decke. Es zeigte einen jungen Mann, der lachend auf dem Rand eines Brunnens saß. Er hatte dunkle, lockige Haare und eine hohe Stirn. Und irgendwie erinnerte er Senta an jemanden. Sie drehte das Foto um und entdeckte ein paar handschriftliche Zeilen auf der Rückseite: »Richart auf Besuch in München – August 1957«. Das Foto war offenbar noch älter als der erste Tagebuch-Eintrag. Senta rechnete, wie viele Jahre es schon her war, dass Richart auf dem Brunnen posiert hatte. Wer das Foto wohl gemacht hatte? Und ob Richart es selbst in das Album gelegt hatte? Senta starrte das Bild an, als könne es ihre Fragen beantworten. Darüber schlief sie irgendwann ein.
Am nächsten Morgen schloss Senta ihr Fahrrad direkt neben dem kleinen Bau ab, in dem der Hausmeister sein Büro hatte. Hier parkte es wie auf einem Präsentierteller und niemand konnte sich in den Pausen unbeobachtet daran zu
Weitere Kostenlose Bücher