Perlentod
er es dann vergessen hatte. Aufgeregt rannte Senta in ihr Zimmer und schnappte sich das Buch. Sie konnte es kaum erwarten, die letzten beiden Einträge zu lesen.
6. Juni 1959
Der Gerichtstermin steht fest: Montag in einer Woche um zehn Uhr. Rechtsanwalt Schwabenfürst hat mich heute eindringlich gewarnt. Wenn ich denen nicht wenigstens die Beute aushändige, kann er nicht mehr viel für mich tun, hat er gesagt. Und weil auch noch eine Person geschädigt wurde, müsste ich mich auf eine lange Gefängnisstrafe gefasst machen. Ich könne nur hoffen, dass der Juwelier wieder gesund wird, hat er gesagt. Er liegt immer noch im Koma. Heute ist Besuchstag. Ob W. endlich kommt? Ich glaube nicht mehr daran. Manchmal fürchte ich sogar, dass Anna alles weiß und mit ihrem Bruder unter einer Decke steckt.
7. Juni 1959
Mir ist nun alles egal. Ein solches Gefühl kannte ich bisher noch nicht. Als ob es nur ein Fliegendreck war, vor dem ich mich die ganze Zeit gefürchtet habe. Manchmal ist mir, als könnte ich schweben und mich von oben sehen – wie ich da liege in den weißen Laken und nur noch aus dünner Luft bestehe. Das Atmen fällt immer schwerer. Vielleicht ist dies das Ende? Ach! Ich bin im Delirium. Da scheint man wild zu fantasieren. Morgen werde ich dem Rechtsanwalt alles erzählen. Zur Sicherheit habe ich es gestern Abend schon in einem Brief niedergeschrieben, den ich hier in meinem Büchlein deponieren werde. Das Büchlein übergebe ich später Frau Ilse. Sie wird es sicher verwahren. Man kann nie wissen, was der nächste Tag bringt!
Obwohl Senta wusste, dass im Tagebuch kein Brief lag, durchblätterte sie akribisch alle Seiten. Aber sie fand, wie befürchtet, nichts dergleichen. Daraufhin nahm sie die Postkarte zur Hand und verglich die Schriften.
Das Tagebuch hatte Richart Rhön in seiner klaren, schnörkellosen Schreibschrift verfasst, die nur bei den letzten vier Einträgen erkennen ließ, dass es dem Schreiber schwergefallen sein musste, den Stift zu führen. Die Karte hingegen zierte eine enge Druckschrift. Aber wenn Senta einzelne Buchstaben miteinander verglich, konnte sie feststellen, dass die kleinen Druckschrift-Buchstaben »e« und »l« fast identisch mit denen der Tagebucheinträge waren. Und da der Verfasser der Karte mit R. R. unterschrieben hatte, stand für Senta fest, dass es sich hier um ein und denselben Mann handeln musste. Sentas Herz raste. Wenn das alles stimmte, dann bedeutete es auch, dass der ominöse W. niemand anderes als der Unsympath Wilhelm Koschel war. Es sei denn, Anna Koschel hatte noch einen Bruder, dessen Vorname mit W. anfing.
»Mama«, rief Senta durch das Haus. »Hat die Frau Koschel noch andere Brüder?«
»Nein. Nur den Wilhelm«, kam prompt die Antwort, die Senta Gewissheit brachte. Richart Rhön musste zusammen mit Wilhelm Koschel eine Straftat begangen haben, bei der die Polizei damals nur Richart geschnappt hatte. Außerdem war die Okkulta, alias Wilhelm Koschels Schwester Anna, mit Richart befreundet gewesen. Jene Anna, für die die Karte bestimmt gewesen war, musste also dieselbe Anna sein, die im Tagebuch erwähnt wurde, schlussfolgerte Senta weiter. Und weil die Geschwister Koschel schon seit jungen Jahren nicht mehr miteinander sprachen, konnte es doch gut sein, dass der Streit etwas mit Richart Rhön zu tun gehabt hatte. Und was hatte Mama noch mal gesagt? Anna Koschels Verlobter war sehr jung gestorben. Senta musste tief durchatmen, als sie die Erkenntnis traf, dass Richart Rhön dieser früh Verstorbene gewesen sein musste, was nichts anders hieß, als dass das Tagebuch nicht weiter geführt worden war, weil Richart gestorben war.
»Wie schrecklich«, flüsterte Senta und fühlte heiße Tränen in ihre Augen steigen. Richart war ihr immer mehr ans Herz gewachsen, je mehr sie an seinen Gedanken teilgenommen hatte.
Ich wüsste nur zu gerne mehr über das Verbrechen, das er begangen hat, überlegte Senta. Er hatte von Perlen, Gold und Edelsteinen geschrieben, fiel es ihr ein und schon reifte in ihrem Kopf eine Idee.
18
Die Karte an Mo hing schon halb im Briefkastenschlitz. Doch Senta musste sich einen letzten Ruck geben, bis sie das Schriftstück losließ. Nun gab es kein Zurück mehr. Es wäre aber auch zu blöd gewesen, wenn sie im letzten Moment einen Rückzieher gemacht hätte. Denn dann hätte sie sich die Zeit gleich sparen können, die sie gebraucht hatte, um sich im Schreibwarenladen für die Ich-bin-ja-so-ein-Esel-Karte zu entscheiden. Für den
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