Perlentöchter
Caroline zu erzählen. »Eine Fehlgeburt«, sagte ihre Tante mit leicht erstickter Stimme, die Helen nicht von ihr kannte. »Das ist sehr traurig.«
Und für einen Augenblick nahm Helen Mitgefühl in dieser Stimme wahr. Plötzlich blitzte eine Erinnerung auf, an das Blut auf den kalten Badezimmerfliesen vor all den Jahren.
»Helen, eigentlich rufe ich an, weil ich selbst Neuigkeiten habe. Ich fürchte leider, es sind auch keine guten. Victor ist gestern gestorben.«
Das Gute an Beerdigungen war, dachte Helen, dass man Menschen wiedertraf, die man schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, wie zum Beispiel ihre Brüder. Immerhin, zwei von drei waren gekommen. Ihr ältester Bruder Roger machte einen sehr vornehmen Eindruck, wie es sich für einen Mitarbeiter im diplomatischen Dienst gehörte, während Geoffrey sein altes fröhliches Ich war und bei der Trauerfeier ein wundervolles Requiem sang. »Er hätte Sänger werden sollen«, murmelte jemand, und Helen stimmte insgeheim zu. In einer anderen Zeit, ohne den Krieg und ohne eine Mutter, die viel zu früh starb, hätte das Wirklichkeit werden können. Auch Geoffreys Kinder waren musikalisch begabt, obwohl Caroline diejenige war, die das künstlerische Talent in der Familie geerbt zu haben schien. Manchmal holte Helen unwillkürlich ihre Wasserfarben hervor, ermutigt durch Peter, aber sie hatte die Malerei zu lange vernachlässigt.
Dann kam Peter eine geniale Idee. Warum bat sie nicht Caroline, die nach ihrer Fehlgeburt noch lustloser als sonst wirkte, ihr Malunterricht zu geben? Dies könne womöglich auch ihrer Tochter helfen, aus ihrem Schneckenhaus zu kommen.
Es half definitiv, die beiden Frauen einander näherzubringen. Ihre Tochter war eine gute Lehrerin, und Helen liebte es zu beobachten, wie ihre Farben auf magische Weise zum Leben erwachten. Am meisten lagen ihr, nach Carolines Ansicht, Naturmotive im impressionistischen Stil, obwohl es für Helens ungeübtes Auge aussah, als hätte sie lediglich Umrisse gemalt. Trotzdem war es schön, Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen. Simon arbeitete immer bis spätabends für seine Zeitung, obwohl Caroline ihr nervös versichert hatte, dies sei normal, wenn er weiterkommen wollte. Aber das Beste war, dass Caroline noch im selben Jahr wieder schwanger wurde.
Helen hörte ihre Altersgenossen oft darüber jammern, dass sie auf ihre Enkelkinder aufpassen mussten. Sie hingegen konnte es kaum erwarten. Als sie die kleine Scarlet mit ihrem roten Schopf im Arm hielt, war sie überwältigt. Nichts hätte sie auf die heftige Zuneigung vorbereiten können, die sie für dieses winzige Wesen empfand, das eine Kombination war aus ihrer bezaubernden Tochter und natürlich Simon. Aber tatsächlich erkannte sie ihre Mutter in den winzigen Gesichtszügen, während sie fasziniert daraufstarrte: Roses Augen, ihre Kieferpartie und selbst den kleinen Knubbel am Ohrläppchen, den das Mädchen geerbt hatte. Einfach unglaublich, wie Rose in Scarlet weiterlebte!
Selbst Tante Phoebe machte einen gerührten Eindruck. Zur Taufe, an der sie sich außerstande fühlte teilzunehmen, obwohl Simon, wie man ihm lassen musste, ihr angeboten hatte, nach Somerset zu fahren und sie abzuholen, schickte sie ein goldenes Armband und ein Kärtchen, auf dem stand, dass sie sich außerordentlich für ihre Großnichte freue.
Es war das Höchste an Zuneigung, was ihre Tante jemals zum Ausdruck gebracht hatte.
Mittlerweile waren Caroline und Simon in ein kleines, aber hübsches viktorianisches Haus am Rande von Clapham gezogen, das, laut Helens Schwiegersohn, ein aufstrebendes Londoner Viertel war. Es war jedenfalls zu weit entfernt für Helen, um ständig babyzusitten, aber sie und Peter kamen regelmäßig vorbei und passten auf die kleine Scarlet auf, wenn die Tagesmutter verhindert war, damit Caroline wieder arbeiten konnte.
»Zu meiner Zeit, meine Schöne«, sagte Peter, »sind die Mütter zu Hause geblieben, um ihre Kinder großzuziehen.«
Helen hätte ihn erinnern können, dass sie mittlerweile Anfang der Achtzigerjahre hatten und dass immer mehr junge Mütter sich entschieden, nebenher weiterzuarbeiten. Aber es war die Mühe nicht wert. Die Ehe, wie ihr allmählich klar wurde, war ein Kompromiss. Nichts war perfekt, aber gewöhnlich konnte man daran arbeiten. Hätten Bob und sie das damals getan, hätte es vielleicht funktioniert. »Wie geht es deinem Vater?«, fragte sie manchmal Grace oder Caroline, aber beide Mädchen machten immer einen
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