Perlentöchter
sagen wollen, dachte Helen, dass Carolines Ehe vielleicht eines Tages in eine Krise geraten könnte und dass ihre Tochter heil daraus hervorgehen würde. Woher sie diese Gewissheit nahm, wusste sie nicht, sie hatte es einfach im Gefühl.
»Bist du mit Simon glücklich?«, versuchte sie es wieder bei einer anderen Gelegenheit. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits bettlägerig, und Scarlet saß auf ihrer Bettdecke und spielte mit ihrer Brille. Manchmal konnte Helen es nicht ertragen, diese feinen Gesichtszüge zu betrachten, die so viel mehr Ähnlichkeit mit Grace hatten als mit denen der Mutter. Es war nicht fair, dass sie so verhältnismäßig jung sterben musste. Es gab noch so vieles, was sie tun wollte – eine richtige Großmutter, Ehefrau, Mutter sein.
»Sicher, Mummy.« Der Tonfall ihrer Tochter legte nahe, das Thema fallen zu lassen.
Und dann, langsam, begannen die Brechanfälle. Wenn Helen sich im Spiegel betrachtete, fiel ihr auf, dass ihre Haut einen leicht gelblichen Ton angenommen hatte. Der Arzt fing an, von Hospizpflege zu sprechen, und die Schmerzen wurden schlimmer. Viel schlimmer.
Sie bekam Heroin verschrieben. Einmal ging es aus, und sie benötigte Nachschub. Caroline, die mit Grace fast täglich vorbeikam, bot ihr an, es zu besorgen, und zu ihrem Entsetzen ertappte Helen sich dabei, dass sie ihre Tochter anschrie. »Du könntest das Rezept verlieren! Du verstehst das nicht! Dort draußen gibt es Leute, die für diese Droge alles tun würden.«
Als sie an Carolines erschrockenem Gesicht erkannte, dass sie zu weit gegangen war, versuchte sie, ihre Tochter zurückzurufen. Aber die Worte wollten nicht herauskommen.
Die Schmerzen wurden so schlimm, dass sie überhaupt nichts mehr herausbekam. Sie konnte bloß noch im Bett liegen, während Menschen in ihr Zimmer hereinschwebten und wieder hinaus. Ihre Mutter. Onkel Victor. Ihre Brüder. Die Mädchen. Einmal glaubte sie, ein Baby in der Unterführung schreien zu hören, in die sie Frank damals geschubst hatte, um Deckung zu suchen, als das Knattern der Flügelbombe verstummt war.
Und dann Carolines Stimme. »Es ist gut, Mummy. Wir sind alle hier.«
Alle hier! Panik stieg in ihrer Kehle hoch. Wenn alle hier waren, bedeutete dies, dass es dem Ende zuging. Sie konnte nicht gehen. Sie durfte nicht. Sie musste noch Dinge erledigen. Sie konnte ihre Kinder nicht verlassen, so wie ihre Mutter sie damals verlassen hatte.
»Sch, meine Schöne, sch.« Das war Peter, der sie fest umschlang. Peter mit seiner tröstenden Stimme, in der allerdings ein panischer Unterton vibrierte.
»Vater unser im Himmel …«
In ihrem Kopf blitzte ein Bild von ihr auf als Elfjähriger, inbrünstig den Rosenkranz betend, während ihre Mutter, die gerade den Führerschein erhalten hatte, auf einer schmalen Straße in Woking zu schnell fuhr.
»Geheiligt werde dein Name …«
Die Worte waren tröstend. Beruhigend. Wie ein Schlaflied. Helen erlaubte sich, an Peters Brust zu sinken.
»Dein Reich komme …«
Die Wellen hatten nun aufgehört zu brechen. Sie schwappten sanft an einen weit entfernten Strand. Ihre Kinderfrau stand dort und winkte ihr, weil es Zeit war zum Schlafengehen. Geoffrey spritzte ihr Wasser hinterher. Es reichte gerade noch, um kurz nach Yolky zu sehen, bevor sie ihren Eltern präsentiert wurde, sauber und bereit fürs Bett.
Caroline
Juli 1997
42
»Mein Stiefvater hat ihren Leichnam beseitigen lassen, bevor ich eintraf.«
Caroline war nicht bewusst gewesen, dass sie weinte, bevor sie den Satz zweimal wiederholen musste, bis Diana sie verstanden hatte. »Er hat veranlasst, dass der Bestatter sie gleich am frühen Morgen abholte, obwohl ich innerhalb einer Stunde nach dem Anruf da war. Ich musste zwei Tage warten, bevor ich sie sehen durfte, weil sie noch nicht ›fertig‹ war, wie der Bestatter sagte. Und als ich dann … als ich dann zu ihr gelassen wurde, sah sie anders aus. Ihr Kinn lag auf der Brust. Ihr Gesicht hatte nicht dieselbe Form. Es war wächsern. Das war nicht Mummy.«
Das Schluchzen kam heraus wie Wellen, die draußen am Fuß der Klippen zerschellten. »Ich musste meinen Vater verständigen, dass seine erste Frau gestorben war – wie schräg ist das denn? Und dann musste ich meiner Großmutter Bescheid geben. Unglaublich, oder? Ich hörte Sandra am anderen Ende der Leitung weinen. Dabei hatte ich immer gedacht, sie und Mummy hätten einander gehasst.«
»Schsch.« Diana hielt ihre Hand – der Griff der alten Dame war fest, aber ihre
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