Perlentöchter
während sie es aussprach, wusste sie, dass es nie dort gewesen war, aber irgendwie schien es richtig zu sein. Und dann rannte sie los. Über die Straße zu einer Steinmauer, aus deren Ritzen kleine blau-violette Blüten quollen, und ihre Finger krallten sich in diese Ritzen, weil sie hineinkriechen wollte, um sich vor ihrem Vater zu verstecken, der gerade ihre Mutter ermordete, nachdem diese sich vorhin beschwert hatte, dass er einen guten Picknickplatz links liegen gelassen habe.
Und nun hielt ein Auto an, und ihr Vater rief etwas wie: »Wo ist das nächste Krankenhaus?« Sie lief wieder zurück über die Straße, und die Frau vorne in dem Auto und der Mann hinter dem Lenkrad lächelten sie an. Wie konnten sie glücklich sein? Sahen sie denn nicht, dass ihr Vater die Haut ihrer Mutter ganz schwarz und blättrig gemacht hatte?
Aber Mummy redete noch, also war sie vielleicht doch nicht ermordet worden. Sie würden jetzt dem Wagen hinterherfahren, erklärte ihr Vater. Er würde sie zum Krankenhaus lotsen. Warum? »Kann sein, dass ich heute Nacht dort bleiben muss.« Ihre Mutter saß auf dem Beifahrersitz und hielt ihre Knie umklammert, während ihr Vater durch die Kurven raste. Normalerweise hätte ihre Mutter ihren Vater längst ermahnt, den Fuß vom Gas zu nehmen. »Bitte, bleib nicht im Krankenhaus«, sagte Caroline in ihrer Erinnerung. »Ich will nicht, dass du heute Nacht weg bist.«
Ihre Mutter lächelte nun wie die Frau vorhin in dem anderen Wagen. Und dann schlief sie ein, Kopf an Kopf mit Caroline, die ihren am liebsten weggezogen hätte, weil ihre Mutter so merkwürdig roch, ganz anders als sonst nach Blue Grass , das ihr Vater ihr immer zu Weihnachten schenkte (konnte Gras wirklich blau sein?), was aber nicht ging, weil ihr Vater ihr befohlen hatte, sich nicht zu bewegen, um ihrer Mutter keine Schmerzen zuzufügen, obwohl alles seine Schuld war.
Eine Liege mit Rollen. Das war das, woran sie sich als Nächstes erinnerte. Sie fuhr in einem Aufzug mit ihrer Mutter, die auf einer fahrbaren Liege lag mit vielen Schläuchen, die jemand als »Tropf« bezeichnete, obwohl nirgendwo ein Wasserhahn zu sehen war. Ihre Mutter in einem Krankenhausbett, wo sie die Arme nach ihr ausstreckte und sie bat, ihr einen Abschiedskuss zu geben. »Nein«, sagte Caroline und rümpfte die Nase vor dem verbrannten Geruch der sich kräuselnden Haut auf den Armen ihrer Mutter. »Nein, ich will nicht.«
Und als ihr bewusst wurde, dass sie ihr doch einen Kuss geben wollte, war es zu spät, und sie saß bereits wieder im Wagen. Tante Phoebes Haus. Dunkel. Wieder ein früher Aufbruch. Nach Hause. Sandra. Sich auf der Couch zusammenrollen mit ihrer Großmutter und den Hintergrundklängen von Coronation Street , die sich wie eine wimmernde Geige anhörten. Die leere Bettseite ihrer Mutter. Gelegentliche Briefe mit »Liebe Grüße von Mummy«. Ein enges Gefühl in der Brust. Angst, wenn ihr Vater das Haus verließ, dass auch er nicht zurückkommen könnte. Wut, denn wenn er nicht versucht hätte, ihre Mutter zu ermorden, wäre sie jetzt vielleicht noch hier.
»Sie haben wirklich gedacht, er hätte versucht, sie umzubringen?«, sagte Petunia leise. Die Frau legte die Hand dicht an Carolines Rücken, die die Wärme durch ihre Kleidung spüren konnte.
Caroline nickte.
»Und wie lange war sie im Krankenhaus?«
»Ich bin mir nicht sicher. Aber es war Spätsommer, und meine Schwester kam im Januar zur Welt.«
»Bestimmt wurde sie in Mitleidenschaft gezogen.«
Caroline dachte an das hitzige Temperament von Grace. »Ich denke, das wurde sie.«
»Vielleicht sollte ich auch einmal mit ihr reden.«
Caroline konnte sich genau vorstellen, wie ihre Schwester reagieren würde. »Helfen?«, würde sie in einem Ton sagen, als handelte es sich um ein großes Missverständnis. »Ich brauche keine Hilfe.«
»Und Sie haben noch nie mit jemandem darüber gesprochen?«
Caroline musste an ihre geschiedenen Freundinnen denken, die ihre Kinder zum Psychologen gebracht hatten: etwas, das sie nun ebenfalls in Erwägung zog, während sie den Kopf schüttelte. »Früher musste man eben einfach mit so etwas zurechtkommen.«
»Aber die Belastung kann Spuren hinterlassen.« Die Wärme im Rücken wurde nun stärker, aber sie war nicht unangenehm. »Was noch? Was hat noch Reifenabdrücke auf Ihrer Seele hinterlassen?«
Reifenabdrücke. Das Bild gefiel Caroline. Es gab noch so viele! Auf der Treppe mit Sandra, die »Pst!« machte, damit sie leise war und niemand
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