Persilschein
Gefühl, dass sich Täter und Opfer schon länger kannten. Aus dem Krieg, möglicherweise waren sie in Lemberg stationiert. Können Sie das nachprüfen?«
»Sofern Ihr Gesuchter von uns namentlich bereits identifiziert wurde, ja.«
»Er heißt Wolfgang Müller.«
»Ein nicht gerade seltener Name.«
»Leider nein.«
»Gedulden Sie sich bitte einen Moment. Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
Nach ewigen fünf Minuten kam der Mann wieder ans Telefon. »Wir haben hier einen Wolfgang Müller. SS-Sturmbannführer. Er wurde einen Monat später als Lahmer nach Lemberg versetzt und leitete mit ihm gemeinsam die Verwaltung des Depots mit der Kriegsbeute. Gegen beide läuft ein Vorermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Frankfurt. Nun ja, gegen den einen jetzt wohl nicht mehr.«
»Wie alt ist er?«
»Müller wurde am 3. Dezember 1910 geboren.«
Demnach wäre er jetzt fast vierzig Jahre alt. Das könnte passen. Goldstein klopfte sich im Geist auf die Schulter – er schien seinen Mann gefunden zu haben. War der Kaufhausbesitzer das Bindeglied zwischen Opfer und Täter? War er möglicherweise selbst in den Mord verstrickt?
»Vielen Dank. Sie haben mir sehr geholfen.«
Der Hauptkommissar atmete tief durch. Es war an der Zeit, Wieland Trasse einen Besuch abzustatten. Und es widersprach auch nicht den Anweisungen seines Vorgesetzten. Er sollte sich ausschließlich um den Fall Lahmer kümmern – genau das hatte er vor, dachte er listig.
28
Mittwoch, 4. Oktober 1950
Konrad Müller hatte einen guten Beobachtungsposten gefunden: Ungefähr hundert Meter vom Hoteleingang entfernt stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Holzbank, eingerahmt von zwei Büschen. Von dort konnte er überblicken, wer das Hotel betrat oder verließ und wurde selbst nicht gesehen. Der Bewuchs bot ausreichend Deckung. Trotzdem verbarg Müller seinen Kopf hinter einer Tageszeitung und lugte nur über deren oberen Rand. Von Zeit zu Zeit erhob er sich und spazierte einige Schritte auf und ab, um zu verhindern, dass seine Beine einschliefen. Länger als drei Stunden täglich verbrachte er nicht auf seinem Posten, es war zu auffällig, den ganzen Tag auf dieser Bank herumzulungern.
Müller überflog gerade zum wiederholten Mal einen Artikel im Sportteil, als Pauly auftauchte. Der Richter trug trotz der milden Witterung einen tief ins Gesicht gezogenen Hut und einen weiten, etwas zu großen Wintermantel, dessen Kragen er hochgeschlagen hatte. Er ging langsam an Müller vorbei, den er keines Blickes würdigte.
Dem jungen Mann stockte der Atem. Pauly kannte ihn nicht, daher drohte ihm keine Gefahr. Es war das überraschende Auftauchen des Richters, welches ihn so aus der Fassung brachte. Monatelang hatte er sich ausgemalt, was er tun würde, wenn er Pauly gefunden hätte und wie der alte Nazi für seine Verbrechen würde büßen müssen. Hunderte Alternativen hatte er in Gedanken durchgespielt. In seinen Fantasien wurde Pauly erstochen, erschossen oder gehenkt. Und er stand als Racheengel daneben und schleuderte ihm die letzten Worte an den Kopf, die er in seinem Leben hören würde: Das ist für meinen Vater!
Und plötzlich war dieser Mörder nur eine Armlänge von ihm entfernt und er saß wie versteinert da, lauschte seinem pochenden Herzschlag und versuchte, seine Nerven zu beruhigen.
Pauly blieb stehen, zündete eine Zigarette an und stieß den Rauch aus. Dabei musterte er das Hotelgebäude. Langsam ging er weiter, bis er das Tor zum Hotelhof erreicht hatte. Er öffnete es, warf einen schnellen Blick über die Schulter und verschwand in der Einfahrt.
Müllers Gedanken überschlugen sich – sollte er ihm folgen? Hastig wog er das Für und Wider ab, bevor er sich jedoch zu einem Entschluss durchgerungen hatte, erschien Pauly wieder auf der Bildfläche und schaute, immer noch rauchend, die Hotelfassade hoch. Dann schnippte er die Kippe auf den Boden, zertrat sie und betrat das Hotel.
Handlungsunfähig beobachtete der junge Mann das Geschehen. Wohnte Pauly auch dort? Oder wollte er lediglich Müller aufsuchen? Und was sollte er jetzt tun?
Erneut nahm ihm der Richter die Entscheidung ab. Nur wenige Minuten, nachdem er in das Gebäude gegangen war, kehrte er zurück. Pauly marschierte nun schnellen Schrittes den Weg, auf dem er gekommen war, in Richtung Bahnhof.
Konrad Müller befreite sich aus seiner Erstarrung und folgte ihm in gebührendem Abstand.
Es war kurz vor fünf Uhr nachmittags. Der Feierabendverkehr hatte
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