Peter Voss der Millionendieb
dem alten Rathaus saß noch immer die dicke Mutter Knülle. Sie war in den zwölf Jahren, da er sie nicht gesehen hatte, nicht dünner geworden und hatte den Mund und das Herz noch immer auf dem rechten Fleck. Er blieb stehen und betrachtete sie lächelnd. Ob sie ihn wohl noch kannte?
»Guten Tag, Mutter Knülle!« rief er jovial.
»Nu, guten Tag auch«, erwiderte sie und stützte die Fäuste auf die Wucht ihrer gigantischen Hüften. »Sie kommen wohl von weit her?«
»Direkt aus China.«
»Nu jaja, Sie sind wohl ein Matrose, und da kommen Sie halt durch die ganze Welt. Und China, das ist doch das Land, wo die Apfelsinen wachsen?«
»I woher denn, Mutter Knülle! Die Apfelsinen kommen aus Messina. In China gibt's Mandarinen, das sind die ganz kleinen Apfelsinen! Früher mal wurden sie dort Minister, wenn sie faulig waren.«
»Ach nein«, rief sie ungläubig. »Man hört doch alle Tage was Neues. Aber woher kennen Sie mich denn? Ich kenne Sie doch nicht!«
»Dann ist's gut«, lachte er und kaufte ihr ein paar Birnen ab.
Mit der offenen Tüte in der Hand spazierte er weiter und kaute auf beiden Backen.
Schließlich blieb Peter Voss vor dem Haus Feldstraße 25 stehen. Da stand wahrhaftig noch immer auf dem schmalen Rasenfleck des Vorgartens der kleine Tonhase, dem er einmal den linken Löffel abgeschlagen hatte. Am Pfeiler der Gartenpforte glänzte blankgeputzt das ehrwürdige Messingschild, darauf der Name und Stand seines Vormunds zu lesen war.
»Oberlandgerichtsrat«, las Peter Voss. »Sieh mal an. Also ist er doch inzwischen etwas weitergekommen.«
Und schon klingelte er. Drinnen näherte sich jemand mit schlurfenden Schritten der verschlossenen Haustür. Die Sicherheitskette wurde vorgelegt, der Schlüssel schnappte, und die Tür tat sich eine Handbreit auf. Eine sehr spitze Nase erschien, darüber ein Paar graue lauernde Augen, darunter ein Mund mit schmalen Lippen, die auf Zahnlücken deuteten.
»Hier wird nicht gebettelt!« ließ sich eine keifende Stimme vernehmen.
»Ich möchte den Herrn Oberlandgerichtsrat sprechen«, sagte Peter Voss.
»Das kennt man schon«, kam's höchst ärgerlich zurück. »Das ist die alte Ausrede. Der Herr Oberlandgerichtsrat ist nicht zu Hause!«
Damit warf sie die Tür heftig zu.
›Wo hat er sich bloß diese Bestie aufgegabelt?‹ dachte Peter Voss, indem er dem ungastlichen Hause den Rücken kehrte.
Also bog er bei der nächsten Ecke in die menschenleere Promenade ein, denn das war der Weg, auf dem der Adoptivvater zum Gerichtsgebäude zu gehen pflegte. Und da kam ihm auch schon ein ziemlich schlanker, älterer Herr mit glattrasiertem Gesicht und goldener Brille entgegen. Unter dem rechten Arm trug er eine Aktenmappe. Das war niemand anders als Oberlandgerichtsrat Patsch.
»Guten Tag, Herr Oberlandgerichtsrat!« sagte er mit Betonung und blieb stehen.
Der Oberlandgerichtsrat dankte kurz, indem er an den Hutrand tippte, und blieb zu seiner eigenen Verwunderung gleichfalls stehen. Die Ähnlichkeit dieses verkommenen Matrosen mit seinem durchgebrannten Adoptivsohn war zu groß.
»Wie heißen Sie?« fragte er unsicher und fuhr, als Peter Voss anstatt zu antworten herausfordernd lächelte, fort: »Sie erinnern mich an jemanden …«
»Sehr schmeichelhaft«, erwiderte Peter Voss und zog die Mütze.
»Peter, du bist es wirklich?« rief jetzt der Oberlandgerichtsrat ganz entsetzt. »Wie siehst du aus. Wie kommst du hierher?«
»Teils auf zwei Beinen, teils per Bahn, teils per Schiff, teils per Auto.«
»Bist du damals wirklich zur See gegangen?«
»Ja, ich bin so dumm gewesen«, nickte Peter.
»Ich weiß schon«, sprach der Oberlandgerichtsrat herablassend. »Du willst natürlich Geld haben. Wir können das aber nicht hier abmachen. Zudem kannst du in diesem erbarmungswürdigen Anzug unmöglich zu mir kommen. Wenigstens nicht offiziell. Meine Haushälterin …«
»Kenn ich!« lachte Peter Voss. »Um die beneid ich dich nicht. Ich komme eben von dort.«
»Um Gottes willen«, rief der Oberlandgerichtsrat erschrocken. »Hast du dich etwa zuerkennen gegeben? Die bringt es noch heute in der ganzen Stadt herum.«
Peter Voss berichtete, daß sie ihn nur für einen Bettler gehalten hätte.
»Dann ist's gut«, erwiderte der Oberlandesgerichtsrat aufatmend. »Ich werde sie ins Kino schicken. Um acht Uhr erwarte ich dich.«
»Na schön«, meinte Peter Voss. »Dann komme ich also um acht. Wenn du willst, kann ich mir ja in einem Geschäft eine neue Jacke
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