Pfad der Schatten reiter4
und ihre Zofe wartete neugierig. Estora betrachtete einen der Männer in der Mitte mit zusammengekniffenen Augen, denn sie meinte, in ihm den Priester zu erkennen, der die Hochzeitszeremonie durchgeführt hatte. Die Mondpriester lebten im Zölibat, aber wahrscheinlich ergriffen sie jede sich bietende Gelegenheit, einen Blick auf das ihnen Verbotene zu erhaschen.
Ihre Zofe half ihr dabei, ihr Abendgewand abzulegen und dann, wie der Ritus es vorschrieb, auch ihr Nachthemd und die Unterwäsche. Sie hätte hastig unter die Decken huschen können, um ihre Nacktheit zu verbergen, wie es einer keuschen jungen Frau geziemte, aber sie war zu wütend. Wütend über Richmonts Drohungen, wütend über diese absurde Tradition. Statt sich zu verstecken, stellte sie sich vor die Zeugen hin, damit sie sie genau betrachten konnten.
»Deshalb sind Sie doch hier, oder?«, fragte sie sie. »Um Ihre Königin in ihrem verletzlichsten Zustand zu sehen? Gefällt Ihnen der Anblick?«
»Herrin, bitte…« Mit Sicherheit der Priester. Er sah weg, aber nicht lange.
Sie entschied sich, dass es nichts gab, wofür sie sich schämen musste. Sie wusste, dass viele Männer ihren Körper begehrten. Diese fünf mussten sich äußerst privilegiert vorkommen. Würden sie vor ihren Freunden damit angeben? Vor ihren Priesterkollegen? Würden sie ausschmücken, was sie gesehen hatten? Sollten sie ruhig glotzen. F’ryan hatte ihren Körper schön gefunden, und es gab ihr ein Gefühl der Macht, diese Männer zu zwingen, sie anzustarren.
Andererseits war es jedoch sehr kalt. Als sie das Gefühl hatte, ihnen genug gezeigt zu haben, kletterte sie neben Zacharias ins Bett und ihre Zofe half ihr, die Decken ordentlich auszubreiten. »Ich bin draußen vor der Tür, falls Ihr mich braucht, Herrin.«
»Danke, Jaid.«
Jaid machte einen Hofknicks, dämpfte das Licht der Nachttischlampe zu einem sanften Glühen und ging, wobei sie Estoras Kleider mitnahm. Es war ein Teil des Rituals, ihr keinen Zugriff auf ihre Kleider zu gestatten, angeblich, damit sie das Schlafgemach nicht verlassen konnte.
Richmont stand auf, kam um das Bett herum und reichte ihr ein Glas Wein. »Euer Hochzeitsbecher«, sagte er. »Trinkt ihn aus.«
Stirnrunzelnd nahm sie ihm das Glas ab. Ein weiterer Teil des Rituals. Häufig war der Wein mit einem Aphrodisiakum vermischt, oder mit Kräutern, die die Fruchtbarkeit fördern sollten. Sie nahm an, dass man Zacharias seinen rituellen Wein in Form von Medizin verabreicht hatte. Sie seufzte und trank. Falls der Wein irgendwelche Drogen enthielt, war die Mischung sehr subtil. Richmont blieb bei ihr stehen, bis sie den Becher geleert hatte, und nahm ihn ihr dann wieder ab.
Sie sank auf die Matratze und starrte auf die dunkle Zimmerdecke über ihr. Zumindest war das Licht so schwach, dass die Zeugen nur sehr wenige Einzelheiten wahrnehmen würden, falls es überhaupt etwas für sie zu sehen gab. Allmählich entspannte sich ihr Körper, sie fühlte sich sehr gelöst, nahm aber dennoch die verschiedenen Materialien, die ihre Haut berührten, genau wahr. Sie spürte, wie die Bewegungen der Bettlaken ihre Nervenenden in Schwingungen versetzten. Die Eindrücke erregten ihren Körper, und sie fragte sich, wie sie wohl auf Zacharias’ Berührung reagieren würde. Ja, der Wein war eindeutig mit Drogen versetzt gewesen.
Zacharias lag als warme, bewegungslose Präsenz neben ihr. Sie streckte ihre Hand aus und strich mit den Fingerspitzen über seinen Arm, und dieser einfache Hautkontakt erfüllte sie mit so intensiven, erotischen Gefühlen, dass sie beinah aufgeschrien hätte. Danach berührte sie ihn nicht mehr. Sie würde nicht zulassen, dass sie zum Ergötzen der Zeugen die Beherrschung verlor, und bisher deutete nichts darauf hin, dass Zacharias in der Lage war, auf sie zu reagieren. Sie blieb still liegen und hoffte, sie würde einschlafen, aber unter diesen Umständen war das schwierig, und die Entlarvung ihres Vetters machte sie wütend.
Schließlich nickte sie doch ein und träumte irgendetwas von ihrem Vater, der an der Reling eines Schiffes stand und versuchte, durch eine Nebelbank zu spähen.
»Pfeile«, sagte er.
Ja, ein Pfeil hatte ihn getötet. Sie tauchte wieder ins Wachbewusstsein auf, Tränen brannten auf ihren Wangen, und sie war zunächst ganz verwirrt. Dies war weder ihr altes Bett noch das neue Bett in den Gemächern der Königin. Sie zwinkerte im Dunkeln und sah dorthin, wo die Zeugen sitzen mussten, aber in dem schummrigen
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