Pfad der Schatten reiter4
beobachtet, ihr nötigenfalls geholfen und assistiert. Unterdessen hatte Großmutter Gubba dazu gebracht, das Ausweiden der Leichen zu beaufsichtigen, und kalte, stille Herzen wurden in Mins größten Kessel gelegt.
Schon während Großmutter sich bemühte, die Macht der Kunst herbeizurufen, spürte sie die Finsternis des Waldes und seine Aufmerksamkeit, als wollte er sie erdrücken. Die Bäume des Hains waren starr geworden, und sie hörte ein Knarzen wie in einem Winterwald, als die Feuchtigkeit im Gehölz gefror.
Als sie den letzten Knoten geknüpft und ein komplexes
Befehlsgewebe vollendet hatte, sank sie erschöpft zusammen und starrte auf das Garngewirr in ihrer Hand. Der machtige Knoten.
Lala stupste sie an der Schulter und reichte ihr einen Becher Tee. Während sie das Garn geknüpft hatte, hatten ihre Leute Feuer gemacht. Nie zuvor war sie so dankbar gewesen.
»Mein gutes Mädchen«, sagte Großmutter müde. Sie legte die Arme um Lalas Schultern. »Holst du mir jetzt bitte meine spezielle Schale?«
Lala nickte und hüpfte zu den Bündeln hinüber. Gubba kam zu ihr und zwitscherte vor Bewunderung angesichts der Kunstfertigkeit der Knoten. Währenddessen schlürfte Großmutter ihren Tee und ließ sich von ihm wärmen.Lala brachte ihr die Tonschüssel und stellte sie ihr zu Füßen.
Großmutter bewegte sich nicht, sondern ruhte sich nur aus, genoss den Tee und die Ruhepause und wusste, dass alles auf diesen Moment abgezielt hatte. Sie wusste auch, dass alle sie beobachteten und gespannt waren, was als Nächstes geschehen würde. Gott hatte in letzter Zeit nicht mehr zu ihr gesprochen und ihr keinerlei Hinweis darauf gegeben, was getan werden musste, abgesehen davon, dass sie die Schläfer wecken musste.
Also hatte sie, so gut sie irgend konnte, einen Zauberspruch geschaffen. Sie nahm an, dass die Schläfer sich in einem Todesähnlichen Zustand befanden, oder zumindest so todesähnlich, wie es dieser unsterblichen Rasse überhaupt möglich war. Deshalb hatte sie einen Zauber erschaffen, der einer Totenerweckung ähnelte, aber dennoch völlig anders war. Angesichts der Größe des Hains war das eine gewaltige Arbeit gewesen, und sie dachte daran, wie stolz ihre Großmutter gewesen wäre, weil sie die Kunst in einer Größenordnung benutzt hatte, die man seit Jahrhunderten nicht mehr erlebt hatte. Wie stolz wären alle ihre Vorfahren der mütterlichen Linie auf sie gewesen,
deren gesamtes Wissen seit vielen Generationen weitergegeben worden war, um jetzt, in diesem Augenblick, dem Zweiten Reich und Gott zu dienen.
Dem Zauber fehlte noch eine einzige Zutat, bevor sie das Erwachen herbeirufen konnte. Sie trank ihren Tee aus, betrachtete traurig die Teeblätter, die auf dem Boden ihres Bechers zurückgeblieben waren, und seufzte. Lala nahm ihr den Becher ab und half ihr beim Aufstehen.
»Gubba«, sagte Großmutter und legte ihre Hände auf die behaarten Schultern der alten Erdriesin. »Du musst mir noch einen Gefallen tun.«
Gubba zirpte fragend, und Großmutter sah tief in ihr wässriges Auge. Sie lächelte ermutigend, bevor sie ihr Messer in Gubbas Kehle stieß Sie durchschnitt das zähe Fleisch der Erdriesin, bis das Messer die Hauptschlagader erreichte.
In Gubbas Auge zeichnete sich Fassungslosigkeit ab, und sie schlug mit den Armen um sich, als sie umfiel Großmutter packte ihre Schüssel, um so viel von dem heraussprudelnden Blut aufzufangen wie möglich.
Die Erdriesen, die in der Nähe geblieben waren und nicht immer noch sinnlos auf die Türen des Schlosses einschlugen wie die anderen, wagten bei Gubbas Opferung keinen Vergeltungsschlag. Ihre Augen füllten sich mit Entsetzen, aber sie erkannten die Macht von Großmutters Kunst und begriffen, dass Gubba ein Teil eines größeren Geschehens geworden war. Statt zurückzuschlagen, flohen sie quiekend und bellend in die Wälder und verschwanden aus Großmutters Bewusstsein.
Die tönerne Schüssel sah ganz gewöhnlich aus, aber sie barg die Kraft, Blut frisch und sogar warm zu halten, und Gubbas Blut war etwas Besonderes, denn sie hatte ein angeborenes Talent für die Kunst besessen. Dadurch wurde es zu einem mächtigen Bestandteil des Zaubers, den Großmutter wob.
Sie hatte Gubbas Herz zu den anderen in den Kessel gelegt. Sie hatte es selbst herausgeschnitten.
»Den Kessel kann man nicht mehr benutzen«, brummte Min. »Nie mehr, bei Gott. Weder für Suppe noch für sonst was.«
Großmutters verknotetes Garn köchelte nun zusammen mit den
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