Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Sie an Ihre Stellung als Gast in diesem Haus zu erinnern.«
»Richten Sie ihm …« Sie verstummte. Andrews war bloß der Bote, und es wäre unfair, den Ärger, den Nathanials Bemerkungen in ihr weckte, an dem Butler auszulassen. Sie rang sich ein freundliches Lächeln ab. »Ich werde es ihm selbst sagen.«
»Wie Sie wünschen, Miss.«
Offenbar hatte Master Nathanial nicht vor, sie auch nur einen Moment vergessen zu lassen, dass sie zwar als Gast angesehen werden mochte, ihr jedoch nicht zu trauen war. Was sie ihm nicht verübeln konnte. Im umgekehrten Fall, also wäre er bei dem Versuch ertappt worden, Beweise gegen sie in ihrem Haus zu suchen, hätte sie sich auch schwer damit getan, ihm zu vertrauen.
Sie biss von ihrem Toast ab und überlegte, in welche Lage sie sich gebracht hatte. Nun war sie in der Pflicht, mit einem Mann zusammen nach dem Siegel zu suchen, dem sie nicht traute und der ihr nicht traute. Was zugegebenermaßen zu ihrem Vorteil war. Sie mochte mit einigen der älteren Mitglieder der Antikengesellschaft bekannt sein, unter anderem mit dem Direktor und dessen Frau, aber sie kannte keinen jener Männer, die denselben Weg eingeschlagen hatten wie ihr Bruder. Genau wie Enrico, fand man sie eher auf einem Kamelrücken oder unter den Sternen campierend vor als in den Londoner Straßen. Für die meisten von ihnen war die gelegentliche Rückkehr in die zivilisierte Welt eine lästige Pflicht, die sie möglichst lange aufschoben. Nötig war sie dennoch, um Geldgeber zu werben, mit Museen zu verhandeln oder sich mit anderen Gelehrten zu beraten. Obwohl Gabriella eine Menge Zeit in der Bibliothek der Gesellschaft verbracht hatte, waren ihr diese Männer selten zu Gesicht gekommen, bis auf einen, den ihr Bruder verdächtigte, das Siegel zu haben.
Außerdem hatte Nathanial, so ungern sie es zugab, Zugang zu Orten, an die sie nicht gelangte, und konnte sich insgesamt deutlich freier bewegen als sie. In Momenten wie diesen sehnte sie sich nach den Tagen ihrer Kindheit zurück, in denen sie sich als Junge kleidete und Enrico sie als solchen behandelte. Es hätte immer so weitergehen können, wäre ihre Taille nicht schmaler geworden und ihr Busen nicht größer – und hätte ein junger Mann, der kaum älter war als sie, nicht entdeckt, dass Enricos kleiner Bruder in Wahrheit eine Schwester war.
Sie wischte den Anflug von Bedauern weg. Wehmütig Erinnerungen nachzuhängen war sinnlos. Das Leben entwickelte sich so, wie es sollte, wie es einem bestimmt war. Das wusste man bereits in der Antike. Sogar in der Bibel stand, dass es für jedes Ding seine Zeit gab. Was natürlich nicht bedeutete, dass man dasitzen und warten sollte, dass das Leben geschah. Man musste seinem Schicksal folgen. Selbst wenn man eine Frau war.
Gabriella beendete ihr Frühstück, und ein Diener begleitete sie zur Bibliothek. Ärgerlich wie es war, überallhin begleitet zu werden, musste sie wohl oder übel gestehen, dass dies ein außerordentlich großes Haus war, in dem sie sich unmöglich ganz allein hätte zurechtfinden können.
Der Diener öffnete die Bibliothekstür. Gabriella ging hinein und erstarrte sofort. »Verzeihung, ich wusste nicht, dass jemand hier ist.«
Ein Gentleman, der am Schreibtisch des Sekretärs saß, stand auf. »Miss Montini, nehme ich an?«
Sie schritt auf ihn zu. »Und Sie müssen Mr Dennison sein.«
Der Sekretär des Earls war nicht besonders gut aussehend, aber auch nicht unattraktiv. Vielmehr war er einer jener unauffälligen Herren, an denen man auf der Straße vorbeiging, ohne sie zu bemerken. Er nickte höflich. »Ich wurde gebeten, Ihnen jede Hilfe anzubieten, die Sie brauchen.«
»Wie überaus freundlich von seiner Lordschaft.«
Mr Dennison zog Schubladen auf einer Seite seines Schreibtischs auf und wies mit der Hand auf den Inhalt. »Vielleicht möchten Sie meine Akten durchsehen? Noch einmal.«
Gabriellas Wangen wurden heiß, doch sie achtete nicht darauf. »Ein sehr freundliches Angebot, Mr Dennison, vielen Dank.«
»Dann wollen Sie vielleicht einen Blick in die Schubladen des Earls werfen?«
»Ich bin sicher, dass es gegenwärtig nicht nötig ist«, murmelte sie.
»Das ist es gewiss nicht. Ich versichere Ihnen, Miss Montini, dass ich von keinerlei Korrespondenz, Dokumentation oder sonstigem Schriftverkehr in Bezug auf das Montini-Siegel weiß.«
Gabriella sah ihn fragend an. »Das Montini-Siegel?«
»So nannte Mr Harrington es.«
»Aha.« Das Montini-Siegel. »Sie meinen, Nathanial
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