Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Allerdings«, erklärte Florence mit einem widerwilligen Unterton, »war dieses Wissen durchaus nützlich.«
Gabriella sah sie an. »Du klingst nicht besonders erbost.«
»Oh, ich bin sehr wohl wütend auf dich. Nur hätte ich etwas Derartiges erwarten müssen. Du bist nun einmal kein Mensch, der schlafende Hunde in Ruhe lässt.«
»Nein, bin ich nicht. Dies hier muss ich tun, und zwar ich allein.«
Florence zog eine Braue hoch. »Dann befindest du dich auf einem Kreuzzug?«
»Richtig. Ich muss … den Diebstahl aufklären.« Es war sehr wohl ein Kreuzzug, nicht minder nobel als jene der Ritter früher. »Jemand hat meinen Bruder ruiniert, sein Lebenswerk zerstört.«
»Und deine Hoffnungen auf die Zukunft.«
Gabriella erschrak. »Das weißt du?«
»Auch wenn du es nie ansprachst, vermutete ich seit Längerem, was du vorhast.«
»Meine Hoffnungen waren abwegig und sind es heute, nach Enricos Tod, umso mehr. Das entscheidende Wort dürfte Hoffnung sein.« Sie zuckte mit den Schultern. »Hoffnung solange, wie Enrico mir nicht ins Gesicht sagte, dass ich ihn nicht wieder bei seiner Arbeit begleiten könnte …«
»Bei seinen Abenteuern, meinst du?«
»Ja, das meine ich. Ich bin nicht so dumm zu glauben, dass es leicht gewesen wäre, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. In den letzten Jahren bemühte ich mich vorsichtig, ihm anzudeuten, dass ich ihm eine große Hilfe sein könnte. Deshalb habe ich gelernt, studiert und gearbeitet. Weil ich unentbehrlich werden wollte.« Für einen Augenblick empfand sie Verlustschmerz, wegen ihres Bruders und wegen sich selbst, den sie gleich wieder verdrängte. »Ich war so sicher, dass die Entdeckung des Siegels der Auftakt für die Suche nach Ambropia wäre, bei der er mich brauchen würde.«
»Es tut mir sehr leid, Gabriella.« Florence tätschelte ihr die Hand, richtete sich wieder auf und sah sie streng an. »Und nun erzähl mir, meine Liebe, hast du bei diesem Unterfangen, ob unrecht oder nicht, etwas finden können?«
»Nein«, antwortete Gabriella seufzend. »Sie alle schwören, sie wüssten nichts über den Verbleib des Siegels.«
»Und du glaubst ihnen?«
»Lady Wyldewood und dem Earl glaube ich. Mr Dennison versicherte ebenfalls, dass er nichts über das Siegel weiß, und bot mir an, nein, ermunterte mich geradezu, seine Akten selbst durchzusehen.«
Florence nickte. »Er scheint mir ein ehrlicher Mann zu sein.«
Gabriella widerstand dem Wunsch, auf Florences Einschätzung des schneidigen Mr Dennison einzugehen. Akten konnten fortgeschafft werden. Mithin hatte sein Angebot nichts zu bedeuten. »Sowohl Quinton als auch Nathanial Harrington sagten, sie wüssten nichts über das Verschwinden des Siegels. Bei dem Älteren der beiden bin ich mir nicht sicher, aber Nathanial …«
»Nathanial?«, fragte Florence jetzt interessiert nach.
»Ich denke, dass ich ihm vertrauen kann, zumindest bis zu einem gewissen Grade.« Sie sah Florence an. »Er will mir helfen, das Siegel zu finden.«
»Ach ja? Mich wundert, dass du ihn nicht für verdächtig hältst.«
»Es war die Idee seiner Mutter. Sie fürchtet, je länger ich allein nach dem Siegel suche, umso wahrscheinlicher ist, dass andere von meiner Suche erfahren, was wiederum für die ganze Familie zu einem Skandal führen könnte.«
»Ah.« Florence überlegte. »Vielleicht solltest du mir alles berichten, was bisher geschehen ist, denn immerhin bin ich deine Freundin .«
»Meine teuerste Freundin«, bestätigte Gabriella. »Ja, sollte ich vielleicht.« Also erzählte sie: von ihrem Auftritt bei Lady Reginas Ball sowie den Ereignissen der letzten Nacht, ließ jedoch den Unsinn über Küsse im Mondschein oder Tanzen mit Nathanial genauso aus wie die befremdliche Sehnsucht, die er in ihr weckte.
»Ah ja, das passt zu dem, was Xerxes mir berichtete«, sagte Florence schließlich. »Obgleich er natürlich keine Einzelheiten wusste.«
Gabriella riss die Augen weit auf. »Du wusstest schon von alledem?«
»Wie ich sagte, kannte Xerxes nicht alle Einzelheiten. Gütiger, Gabriella, nach all den Jahren glaubst du doch gewiss nicht, ich würde nicht bemerken, wenn etwas nicht stimmt.« Florence schüttelte den Kopf. »Ich wusste es, sobald ich deine Nachricht heute Morgen las. Und als ich dann die las, die du Xerxes schriebst …«
»Du hast meinen Brief an ihn gelesen?«
»Dachtest du, ich würde es nicht? Hattest du geglaubt, dass ich nicht verlangen würde, sie zu sehen?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass du
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