Pfand der Leidenschaft
Zurückhaltung wider, die sie selbst im Schlaf nicht unterdrücken konnte.
Da bemerkte Amelia, dass die Augen ihrer Schwester geöffnet waren. Win lag reglos und still da, ihr Gesichtsausdruck war ernst und feierlich, als wollte sie jede Sekunde mit ihm tief in sich einsaugen.
Überwältigt von Mitgefühl und Trauer, wandte Amelia den Blick von ihrer Schwester und verließ den Raum.
Beinahe wäre sie auf dem Korridor mit Poppy zusammengestoßen, die auch mit gespenstisch weißem Morgenrock durch das Haus schlich.
»Wie geht es ihm?«, fragte Poppy.
Das Sprechen fiel Amelia schwer. Ihre Kehle schmerzte. »Nicht gut. Er schläft. Lass uns in die Küche gehen und Tee zubereiten.« Sie gingen zur Treppe.
»Amelia, ich habe von Leo geträumt. Es waren schreckliche Träume.«
»Das habe ich auch.«
»Glaubst du, er könnte sich etwas … angetan haben?«
»Das hoffe ich nicht, von ganzem Herzen. Aber es wäre möglich.«
»Ja«, flüsterte Poppy. »Ich weiß.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. »Arme Beatrix!«
»Was meinst du damit?«
»Sie ist noch zu jung, um so viele Menschen zu verlieren … Vater und Mutter und jetzt auch noch Merripen und Leo.«
»Merripen und Leo sind nicht gestorben.«
»Unter diesen Umständen wäre es ein Wunder, wenn wir einen von beiden zurückbekämen.«
»Du bist morgens immer ein solcher Ausbund an Fröhlichkeit!« Amelia nahm ihre Hand und drückte sie. Mit aller Gewalt kämpfte sie ihre eigene Verzagtheit nieder und sagte bestimmt: »Gib nicht auf, Poppy. Wir werden uns so lang wie möglich an jeden Hoffnungsschimmer klammern.«
Sie erreichten den unteren Treppenabsatz. »Amelia.« Poppy klang ein wenig verärgert. »Verspürst du nie den heimlichen Wunsch, dich auf den Boden zu werfen und zu weinen?«
Ja , dachte Amelia. Und zwar genau in diesem Augenblick . Aber sie konnte sich den Luxus von Tränen nicht leisten. »Nein, natürlich nicht. Weinen ist nie eine Lösung.«
»Hast du eigentlich niemals das Bedürfnis, dich an die Schulter eines anderen zu lehnen?«
»Ich brauche keine fremde Schulter. Ich besitze selbst zwei gesunde.«
»Das ist doch Unsinn. Du kannst dich nicht an deine eigene Schulter lehnen.«
»Poppy, wenn du den Tag damit beginnen willst, dich mit mir zu streiten …« Amelia verstummte, als sie draußen hörte, wie Pferdehufe laut donnernd über den Schotter jagten. »Gütiger Himmel, wer mag zu dieser frühen Uhrzeit gekommen sein?«
»Der Arzt«, riet Poppy.
»Nein, ich habe noch nicht nach ihm geschickt.«
»Vielleicht ist Lord Westcliff zurückgekehrt.«
»Aber dafür gäbe es doch keinen Grund. Warum sollte er seine Reise vorzeitig abbrechen?«
Jemand klopfte draußen an die Haustür, und das Pochen hallte laut in der Eingangshalle wider.
Die Schwestern warfen sich beunruhigte Blicke zu. »Wir können nicht aufmachen«, sagte Amelia. »Wir tragen nur unser Nachtgewand.«
Eine Zofe eilte in die Eingangshalle. Nachdem sie einen Eimer Kohle abgesetzt hatte, wischte sie sich die Hände an ihrer Schürze ab, entriegelte die Tür, schob sie einen Spalt auf und machte einen höflichen Knicks.
»Nun komm schon«, murmelte Amelia und drängte Poppy zur Treppe. Als sie einen raschen Blick über die Schulter wagte, sah sie einen hochgewachsenen, dunklen Umriss, der ein wahres Feuerwerk der Gefühle in ihr entzündete. Sie blieb mit dem Fuß auf der ersten Stufe stehen und starrte den Neuankömmling an, bis ein Paar bernsteinfarbener Augen in ihre Richtung schauten.
Cam.
Er sah zerzaust und staubig aus, wie ein Gesetzloser auf der Flucht. Ein Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, während er sie mit seinem Blick verschlang. »Anscheinend kann ich einfach nicht von dir fernbleiben«, sagte er.
Ohne nachzudenken lief sie zu ihm, wäre in ihrer Eile beinahe gestolpert. »Cam …«
Er fing sie leise lachend auf. Der Geruch der Natur haftete an ihm: Erde, Feuchtigkeit, Blätter. Der Sprühregen auf seinem Jackett bahnte sich einen Weg durch den dünnen Stoff ihres Morgenmantels. Als Cam ihr Zittern spürte, öffnete er wortlos das Jackett und zog sie an seinen harten, warmen Körper, der in diesem Moment für Amelia der sicherste Hafen der Welt war. Und dennoch konnte sie ein gewisses Unbehagen nicht unterdrücken. Undeutlich nahm sie die Gegenwart ihrer Schwester und der Dienstboten wahr, die durch die Eingangshalle hasteten. Sie machte einen Narren aus sich, das wusste Amelia – sie hätte zurückweichen und sich zusammenreißen
Weitere Kostenlose Bücher