Pfand der Leidenschaft
Sie waren wohl überrascht, einen Roma anzutreffen, der bei den Gadjos lebt.«
»Sie waren durchaus überrascht«, stimmte ihm Cam zu, »und bekundeten ihr Mitleid.«
»Mitleid?« Dem Earl war nicht bewusst gewesen, dass sich die Roma den Gadjos überlegen fühlten.
»Sie bemitleiden jeden Menschen, der solch ein Leben führt.« Cam deutete kühl auf die geschmackvolle Einrichtung. »Der in einem Haus schläft. Von Besitztümern erdrückt wird. Sklave seines Zeitplans ist. Eine Taschenuhr besitzt. All das kommt ihnen unnatürlich vor.«
Er verstummte und rief sich den Augenblick ins Gedächtnis, als er das Lager betreten und ihn eine innere Ruhe überflutet hatte. Der Anblick der Wagen, Vardos , vor deren Vorderrädern die Hunde faulenzten, die zufriedenen Pferde, die in der Nähe grasten, der Geruch nach Pfeifentabak und Asche … all das hatte wunderschöne Kindheitserinnerungen in ihm geweckt. Und ein unstillbares Verlangen. Er wollte dieses Leben, hatte nie aufgehört, sich danach zu sehnen. Denn er hatte bei den Gadjos nie etwas gefunden, das ihm dieses Gefühl von Wärme und Zugehörigkeit gegeben hätte.
»Für mein Verständnis ist es nicht unnatürlich, bei Regen ein Dach über dem Kopf vorzuziehen«, sagte Westcliff. »Oder Land zu besitzen und zu bestellen oder den Tagesverlauf mit Hilfe einer Uhr zu bestimmen. Andernfalls würde die Gesellschaft auseinanderbrechen, in Chaos und Krieg stürzen.«
»Und die Engländer mit ihren Uhren und Höfen und Zäunen … sind in keine Kriege verwickelt?«
Der Earl runzelte die Stirn. »Man darf diese komplexen Vorgänge nicht aus ihrem Zusammenhang reißen und vereinfacht darstellen.«
»Die Roma tun es.« Cam betrachtete seine Stiefel, deren abgenutztes Leder mit einer getrockneten dünnen
Schlammschicht überzogen war. »Sie haben mir angeboten, dass ich sie begleiten kann, sobald sie abreisen«, sagte er beinahe selbstvergessen.
»Du hast natürlich abgelehnt.«
»Ich hätte ihr Angebot angenommen. Wenn mich meine Verpflichtungen in London nicht abhalten würden, hätte ich es wohl getan.«
Jeglicher Ausdruck wich aus Westcliffs Gesicht. Eine nachdenkliche Pause folgte. »Du überraschst mich.«
»Warum?«
»Du bist ein außergewöhnlich fähiger und intelligenter Mann. Du verfügst über ein stattliches Vermögen, das sich in Zukunft vervielfachen könnte. Es wäre Verschwendung.«
Ein Lächeln überzog Cams Lippen. Obwohl Westcliff ein aufgeschlossener Mann war, vertrat er eine vorgefasste Meinung, wie Menschen ihr Leben führen sollten. Seine Werte – wie Ehre, Fleiß und Fortschrittsglaube – stimmten nicht mit denen der Roma überein. Für den Earl war die Natur ein Gut, das es zu verwalten und zu organisieren galt – Blumen mussten in Beeten gezüchtet, Tiere abgerichtet oder gejagt, das Land gerodet werden. Und ein junger Mann musste einer vielversprechenden Arbeit nachgehen und eine sittsame Frau heiraten, mit der er eine anständige englische Familie gründen konnte.
»Warum wäre es Verschwendung?«
»Ein Mann muss doch sein gesamtes Potenzial ausschöpfen«, kam die unverzügliche Antwort. »Das könntest du niemals, wenn du als Roma lebtest. Deine Grundbedürfnisse – Nahrung und Obdach – wären kaum je gestillt. Man würde dich fortwährend
jagen. Wie in Gottes Namen kann ein solches Leben einen Reiz auf dich ausüben, wenn du fast alles hast, was sich ein Mann nur erträumen könnte?«
Cam zuckte mit den Schultern. »Es bedeutet Freiheit.«
Westcliff schüttelte den Kopf. »Wenn du dein eigenes Land willst, hast du doch die nötigen Mittel, um es zu kaufen. Wenn du Pferde willst, kannst du einen ganzen Stall voll reinrassiger Tiere erstehen. Wenn du …«
»Das ist nicht Freiheit. Wie viel Zeit verbringst du damit, dein Anwesen, deine Finanzen und die Geschäfte zu führen, dich mit Börsenmaklern und Bankiers zu treffen, nach Bristol und London zu reisen?«
Westcliff wirkte gekränkt. »Willst du mir allen Ernstes weismachen, dass du tatsächlich in Erwägung ziehst, deine Anstellung, deine Ziele und deine Zukunft aufzugeben … um die Welt in einem Vardo zu bereisen?«
»Ja. Ich ziehe es in Erwägung.«
Westcliffs kaffeebraune Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Und du glaubst, dass du nach all den Jahren, in denen du in London ein arbeitsreiches, bewegtes Leben geführt hast, dich nun damit zufriedengeben könntest, ziellos umherzuwandern?«
»Es ist das Leben, das für mich bestimmt ist. In deiner Welt bin
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