Pfand der Leidenschaft
wahrscheinlich genau im Zug«, sagte Poppy besorgt. »Komm neben mich, Amelia – ich bin viel näher am Feuer.«
»Vielen Dank, aber ich gehe wohl lieber zu Bett.« Immer noch bibbernd gähnte Amelia. »Gute Nacht.« Sie verließ das Zimmer, als Beatrix ihre ältere Schwester bat, ein letztes Kapitel vorzulesen.
Während Amelia den Korridor hinabeilte, kam sie an einem kleinen Zimmer vorbei, das wahrscheinlich als Aufenthaltsraum für den Hausherrn gedacht war. In einer Wand war eine Nische eingelassen, die groß genug für einen Billardtisch war, an einer anderen hing ein üppiges Gemälde mit einer Jagdszene. Ein großer, gemütlicher Ohrensessel mit abgenutztem Samtbezug war zwischen die beiden Fenster geschoben worden. Das schwache Licht einer Stehlampe erhellte den Fußboden.
Leo döste zusammengesunken in dem Sessel, wobei ein Arm schlaff über die Lehne herabhing. Eine leere Weinflasche stand auf dem Boden neben dem Sessel und warf den Schatten eines Speers an die andere Zimmerwand.
Amelia wollte schon weitergehen, da machte sie irgendetwas an der Körperhaltung ihres Bruders stutzig. Im Schlaf war ihm der Kopf auf die Schulter gesackt, und seine Lippen waren leicht geöffnet, genau wie damals in seiner Kindheit. Ohne die schreckliche Wut und Trauer, die sein Gesicht ansonsten verzerrten, sah er jung und verletzlich aus. In diesem Moment erinnerte er sie an den zuvorkommenden, charmanten Jungen, der er früher einmal gewesen war, und ihr Herz zog sich schmerzlich zusammen.
Als Amelia den Raum betrat, war sie entsetzt, wie klirrend kalt es dort war, sogar noch eisiger als draußen im Freien. Und diesen jähen Temperatursturz bildete sich Amelia nicht nur ein – sie konnte ihren Atem sehen, der in weißen Wolken aus ihrem Mund kam. Zitternd näherte sie sich ihrem Bruder. Die Kälte schien von ihm auszustrahlen und wurde so beißend, dass ihr die Lungen brannten. Sie beugte sich über ihn, und auf einmal wurde sie von einem Gefühl der Leere überrollt, einer trostlosen Schwermut, die jenseits aller Vorstellung lag.
»Leo?« Sein Gesicht war düster, seine Lippen trocken und bläulich, und als sie seine Wange berührte, war keine Spur von Wärme in ihnen. »Leo!«
Keine Antwort.
Amelia schüttelte ihren Bruder, schlug ihm fest gegen die Brust, nahm sein ausdrucksloses Gesicht in die Hände. Sie hielt sich verbissen an ihm fest, krallte die Finger in den Stoff seines Hemdes. »Leo, wach auf!«
Zu ihrer unendlichen Erleichterung rührte er sich und schnappte röchelnd nach Luft. Dann flatterten seine Lider auf. Die Iris seiner Augen waren so blass
wie Eis. Er legte Amelia die Handflächen auf die Schultern und murmelte benommen: »Ich bin wach. Ich bin wach. Gütiger Himmel! Nicht schreien. Du machst genug Lärm, um die Toten zu wecken.«
»Einen Moment lang glaubte ich schon, ich täte genau das.« Amelia brach regelrecht auf der Sessellehne zusammen. Ihre Nerven lagen blank, aber zum Glück wich allmählich die Kälte. »O Leo, du warst so reglos und blass! Ich habe schon lebendigere Leichen gesehen.«
Ihr Bruder rieb sich die Augen. »Ich bin nur ein bisschen mitgenommen. Nicht tot.«
»Du bist nicht aufgewacht.«
»Das wollte ich nicht. Ich …« Er hielt inne und wirkte aufgewühlt. Sein Ton war sanft und nachdenklich. »Ich habe geträumt. So intensiv …«
»Und was hast du geträumt?«
Er antwortete nicht.
»Von Laura?«, beharrte Amelia.
Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, und tiefe Linien zerfurchten seine Haut, wie bei einem Stein, der durch Kälte Sprünge bekam. »Ich habe dir verboten, in meiner Gegenwart ihren Namen auszusprechen.«
»Ja, weil du nicht an sie erinnert werden möchtest. Aber das spielt doch keine Rolle, Leo. Du denkst pausenlos an sie, egal ob du ihren Namen nun hörst oder nicht.«
»Ich will nicht über sie reden.«
»Allerdings scheint Verdrängen auch nicht weiterzuhelfen.« Verzweifelt überschlugen sich ihre Gedanken. Welchen Weg sollte sie einschlagen? Wie konnte sie am besten zu ihm vordringen? Sie versuchte es mit
eiserner Entschlossenheit. »Ich werde nicht zulassen, dass du dich aufgibst, Leo.«
Der Blick, den er ihr zuwarf, bedeutete ihr, dass sie die falsche Wahl getroffen hatte. »Irgendwann«, sagte er mit frostiger Zuvorkommenheit, »wirst du vielleicht einsehen, dass es Dinge gibt, die du nicht kontrollieren kannst. Falls ich mich umbringen möchte, werde ich dich nicht um Erlaubnis fragen.«
Als Nächstes versuchte sie es mit Mitgefühl.
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