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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Warst du nicht Todts Sekretärin?«
    »Ich war Sekretärin, aber nicht direkt seine. Ich saß im Im- und Export, jus de pomme, applejuice, zumo de man zana und so weiter. Todt und ich, wir haben uns nicht in der Firma kennengelernt, sondern im Wald, ge nauer am Stausee. Hat er dir das denn nie erzählt?«
    »Du weißt doch, wir hatten wenig miteinander zu tun.« Sie schlug die Personalakten auf. »Todt hat mir nie was Persönliches erzählt. Erstens war er acht Jahre älter. Und nach der Geschichte – du weißt schon – hat Papa ihn doch nie mit mir allein gelassen. In den Sommerferien war ich immer auf Reittour in Ungarn, und während der Schulzeit war er im Internat, später zum Studium in München. Als Todt dann nach dem Studium zurückkam, schickte Papa mich zur Ausbildung nach Oldenburg und Hannover. Ich weiß praktisch nichts von ihm, außer dass er gut aussah.«
    Hinter der Sache mit dem Titel »du weißt schon« verbarg sich das Gallion’sche Familiendrama. Als Siglinde fünf war, stieg sie auf den Kirschbaum hinterm Haus und traute sich nicht mehr hinunter. Todt, damals dreizehn, eilte herbei, breitete die Arme aus und rief: »Spring!« An Vertrauen fehlte es der kleinen Siglinde damals nicht. Sie ließ sich fallen. Todt passte jedoch nicht auf. Er schaute zum Haus, als Siglinde sprang, und sie schlug mit dem Schädel auf dem steinharten Som merboden auf. Eine Woche lang schwebte sie im Krankenhaus mit Schädelbruch zwischen Leben und Tod. Danach musste sie das Sprechen wieder neu lernen.
    »Glaubst du wirklich«, sagte ich, »dass Todt dich da mals umbringen wollte?«
    »Ich erinnere mich nicht.« Siglinde suchte in Schubladen nach Papier. »Ich weiß nur, was Papa mir erzählt hat, und er hat es doch vom Fenster aus gesehen.«
    »Kannst du dir vorstellen«, sagte ich, bemüht, ruhig zu bleiben, »dass Todt sein ganzes Leben lang Schuldgefüh le hatte?«
    »Ja klar.« Siglinde sagte es so leichthin, als könne sie sich nicht vorstellen, was Schuldgefühle waren.
    »Dein Vater hat Todt zum Mörder erklärt. Der Psy chologe, zu dem man den Buben steckte, fand heraus, dass Todt dich unbewusst für den Tod eurer Mutter verantwortlich machte. Er war ja acht Jahre alt, als sie bei deiner Geburt starb. Außerdem machten sie ihm klar, dass er eifersüchtig auf dich gewesen sein muss, weil du als Nesthäkchen Vaters Liebling warst. Todt hatte nicht die geringste Chance, an seinen unbewussten Hassgefühlen zu zweifeln. Er glaubte, er werde von Tötungswünschen beherrscht, und sie könnten jederzeit wieder in einen Mordversuch ausarten. Er hatte Angst vor sich selbst. Darum war er auch so nachgiebig gegenüber eurem Va ter. Er fürchtete, er könnte ihn totschlagen, wenn er es auf einen offenen Krach ankommen ließe.«
    Siglinde hatte mittlerweile ein Blatt Papier gefunden, um darauf die geforderte Liste zu erstellen.
    »Dabei war doch dein Vater schuld.«
    Siglinde blickte auf. Nicht erstaunt, eher neugierig.
    »Er machte das Fenster auf und rief Todt etwas zu, just in dem Moment, da du dich vom Ast fallen ließest.«
    Da war es wieder, Siglindes eigenartiges, halb anerkennendes, halb skeptisches Lächeln. Wäre das Gallion’sche Kinn nicht gewesen, sie hätte Todt in diesem Moment fürchterlich geähnelt. Auch er reagierte kühl, als ich es so klar aussprach: Dein Vater hat dich abgelenkt. Er ist schuld. Zwar knackste das Schuldsystem, geriet Todts Seelengefüge ins Rutschen, aber es war fast unmöglich für mich, dem über Dreißigjährigen eine Schuld auszureden, mit der er erwachsen geworden war. Er erinnerte sich zwar, dass er zum Haus geschaut hatte, als Siglinde sprang, aber der Psychologe hatte ihm klargemacht, dass dieser Blick die Versicherung des Mörders war, dass es keinen Zeugen gab. Den Vater wollte er nicht gesehen haben, seinen Zuruf nicht gehört. Ich argumentierte, dass seine Angst vor dem Vater damals so groß gewesen sein musste, dass er sich sofort auf ihn konzentrierte, selbst in einer Situation, in der er ganz für seine Schwester hätte da sein müssen. Diesen Fehler ha be er dann verdrängt. Todt verliebte sich zwar in mich, weil ich ihm einen Ausweg aus dem Gallion’schen Schuldgefängnis zeigte, aber die zwei Jahre, die wir miteinander hatten, reichten nicht, um ihn auf psychologischem Neuland trittsicher zu machen.
    »Dazu kann ich nichts sagen«, sagte Siglinde reichlich unberührt. Aber es war ja auch nicht ihr Drama. An das traumatische Ereignis erinnerte sie sich nicht. Sie

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