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Pferdekuss

Pferdekuss

Titel: Pferdekuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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wusste nichts von dem klugen Engelchen, an das sich Todt noch erinnerte, von dem schelmischen Kindchen, das tausend Worte erfand und den Vater mit seinem Charme entzück te. Die sprachliche Verödung infolge des Schädelbruchs belastete sie heute nicht, falls sie sie überhaupt wahrnahm. Ihr heutiges Leben war nicht auf begriffliche Schärfe und differenzierten Gefühlsausdruck angelegt. Sie leitete ein Gestüt.
    »Außerdem habe ich meinen Bruder kaum gekannt.«
    Ganz im Gegensatz zu Todt, der seine Schwester sehr gut gekannt hatte, ihre Teddys mit Namen, ihre erste Liebe zu dem Isländer-Pony Sascha, sogar das Versteck unter der losen Latte in der großen Scheune, in dem sie einst Federn, tote Eidechsen und Katzenknochen sammelte.
    »Was ich nie verstanden habe«, sagte Siglinde, »wa rum ist Todt denn überhaupt nach dem Studium in München zurückgekommen, um Papas Saftfabrik zu übernehmen? Wo er ihn doch immer so böse behandelt und ihn immer gequält hat mit seinen Vorwürfen.«
    »Weil Todt nie aufgehört hat zu hoffen, dass er mit eurem Vater ins Reine kommt. Er wollte ihm zeigen, dass er ein guter, ein loyaler Sohn ist, der seine Pflichten übernimmt. Er hoffte, dass euer Vater ihm eines Tages verzeiht, egal, ob es ein Unglücksfall war oder ein unbewusster Mordversuch. Verstehst du?«
    »Ja, schon …«
    So blank hatte ich Siglinde noch nie gesehen, so bar jeder Kampfbereitschaft, für Sekunden völlig wehrlos. Ein gutes Dutzend Mal hatte ich erlebt, wie sie ihren brillanten Bruder oder ihren scharfzüngigen Vater niederkreischte, bis sie vor dem Krach kapitulierten, den sie machte. Siglinde verteidigte ihr Stück vom Braten auf dem Tisch schon, wenn jemand nur den Duft einschnüf felte. Jetzt hätte sie die Grundlagen ihrer eigenen Famili engeschichte zu verteidigen gehabt, konnte aber meine Stoßrichtung nicht ausmachen und wusste deshalb nicht, wie sich entscheiden, für oder gegen ihren Bruder, weil sie mir glaubte oder ihrem Vater.
    »… aber das liegt alles so lang zurück. Und ich muss jetzt hier diese scheiß Angestelltenliste machen.«
    Mir knirschte die Seele. Wie musste man geartet sein, damit fünf Jahre lang sind?

7
     
    Der Leichenwagen fuhr am Fenster vorbei über den Hof in Richtung Schulstall.
    Siglinde begann, die Namen aus den Personalakten auf das Blatt Papier zu malen. Ich nahm das Telefonbuch vom Schrank und schlug Bongart, Amselweg 39, nach. Dort ging niemand ans Telefon. Also Graber, Berggasse 12. Eine Mutter war zu Hause, die Tochter Petra nicht. Sie sei auf dem Weg in den Reitstall.
    »Wissen Sie, ob Vanessa Bongart dabei ist?«, erkundigte ich mich.
    »Petra wollte sie jedenfalls abholen. Sie fahren immer zusammen mit den Rädern. Wer sind Sie überhaupt?«
    »Vielen Dank.« Ich legte auf und studierte den Reitplan. Weder Petra noch Vanessa waren für heute Nachmittag eingetragen. Haben die Eltern erst mal akzeptiert, dass die Töchter dreimal die Woche den Nachmittag im Stall verbringen, dann ist das für Teenager eine gute Ba sis, sich für andere Aktivitäten abzuseilen, zum Beispiel für gemischtgeschlechtliche Ausflüge ins Grüne.
    Ich rief beim Stuttgarter Anzeiger an und überredete Pit Hessler nachzuforschen, ob in den Stuttgarter Ministerien ein Herr Bongart tätig war. Pit frotzelte, was ich denn in meinem Familienurlaub von einem Ministerialbeamten wolle, versprach aber, mich auf meinem Handy wieder anzurufen.
    Der Leichenwagen fuhr erneut am Fenster vorbei, diesmal in Richtung Eninger Landstraße. Danach schien hell und heiter die Sonne, und Leute gingen mit und ohne Pferd im Gefolge über den Hof, zuweilen angehalten von einem Polizeibeamten. Inzwischen dürfte Feil auch mit Hajo gesprochen haben. Wahrscheinlich hatte er währenddessen das Euter der hochtragenden Stute Hamsun inspiziert, um zu sehen, ob es schon erste Milch ausharzte.
    »Seit wann ist Hajo eigentlich bei euch?«, erkundigte ich mich.
    Siglinde hob die schwarzen Brauen. »Hajo? Seit vier, nein, fünf Jahren.«
    »Kanntest du ihn von Oldenburg her?«
    »Nein. Er stand eines Tages auf dem Hof und wollte Arbeit. In Marbach hatten sie ihn wohl als Stallburschen beschäftigt. Kein Wunder, dass es ihm da auf Dauer nicht gefiel. Hier hatte er doch ganz andere Möglichkeiten, vor allem als der alte Max entdeckte, dass er reiten kann. Er hat Hajo auf Hexe gesetzt.«
    Sie lachte, ich auch. Hexe war ein Trakehner-Biest mit großem Talent zum Rodeo, das Waterloo, das jeder Stall für Prahlhänse

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