Phantastische Weihnachten: 24 Geschichten zum Weihnachtsfest (German Edition)
Rachenas Skelett! Wie viel Uhr war es?
10 Minuten vor 12 Uhr. Wo war Crobs? Wo war die Hexe?
Zitternd rannte Jay auf den Plattenbau zu, den bunten Weihnachtsmarkt hinter sich lassend, nahm er immer zwei Treppenstufen, so schnell es seine Beine hergaben.
Nach endlos erscheinenden Zeitpunkten und nach Luft schnappend betrat er die gemeinsame Wohnung.
Doch sie war leer. Der Sarg war verschwunden, und auch sonst deutete nichts auf die Besucherin hin.
Jay musste unwillkürlich an das Wort „Weihnachtswunder“ denken. Es wallte ein unangenehmes Gefühl in ihm auf.
Dann bemerkte er den Luftzug und sah, dass das Fenster offen stand.
„Suchst du mich?“
Mit einem halben Herzinfarkt prallte Jay zurück.
Rachena schmunzelte, denn im fahlen Licht des Flurs wirkte sie tatsächlich wie eine Erscheinung.
„Was zum…“, begann Jay verwirrt. Er wusste, dass er etwas sagen wollte, aber er hatte keine Ahnung, wie er es formulieren sollte.
„Habt ihr schon meine Geschenke entdeckt?“
Die Hexe bewegte sich nicht, der Schatten, den sie warf, schien nicht zu ihr zu passen.
„Geschenke?“, fragte Jay verwirrt über die plötzliche Konfrontation.
„Ah, ich verlasse euch doch nicht ohne Geschenke. Es ist Weihnachten, oder? Das Fest der Familie und des friedlichen Beisammenseins. Auch wenn das wohl nicht immer klappt.“
Sie kicherte vergnügt.
„Beeindruckend, was man mit etwas Aufwand schafft, nicht wahr?“
Stille setzte ein.
Rachenas Blick war aufgeschlossen wie immer.
„Ihr müsst nicht allein bleiben. Wenn ihr das nicht wollt, dann sucht euch jemanden. Auch derjenige der sagt, dass er nicht allein ist, kann lügen. Seid nicht dumm und bleibt stolz. Man kann immer Veränderungen bewirken. Hörst du das?“ Sie deutete auf das Fenster. „Das ist Veränderung, wenn auch nur ein Kieselstein auf einem Weg.“
Jay lauschte den Geräuschen, dem Lachen, der Musik, der Glöckchen.
„Aber was…“, begann er.
Doch Rachena war weg.
Und Jay fragte sich, ob sie wirklich jemals da war.
Er zweifelte ohnehin an seinem Verstand, da machte das bisschen mehr auch nichts mehr aus.
Crobs lehnte an einem Stand mit kleinen, heißen Pfannkuchen und starrte irgendwo hin.
„Hey.“
„Hey“, wiederholte Crobs gedankenlos.
Sie standen eine Weile schweigend beieinander, während Jay zu entdecken versuchte, was sein bester Freund betrachtete.
Doch er sagte es ihm selbst.
„Siehst du das Mädchen dort? Die Blonde mit diesem hässlichen Schal? Die hat mir vor ein paar Monaten einen geklauten Zehner ihres Freundes in die Hand gedrückt und gemeint, dass sie Pink mag. Sie hat gegrinst. Ich dachte, ich würde sie nicht mehr sehen. Und da vorn steht sie“, erklärte Crobs leise.
„Deswegen warst du vorhin auf einmal weg?“, brummte Jay und steckte seine Hände in die Manteltasche.
Er berührte etwas Knittriges und zog es verwundert heraus.
Einen Moment beäugte er das Papier.
„Weißt du was?,“ begann er dann monoton.
„Was?“
„Ich glaub, sie war wirklich eine Hexe.“
Crobs reckte den Kopf, achtete kaum auf Jay.
„Ja, ich glaube es auch.“
Jay schaute sich um, und er sah, wie der Typ mit dem Zylinder zwinkerte, winkte und mit einem Besen in der Hand in den Menschenmassen verschwand. Die missgelaunte Frau mit den verworrenen Haaren sprang ihm katzenhaft hinterher.
Nachdenklich betrachtete Jay den Zeitungsauschnitt.
„Ein Weihnachtswunder, was?“, murmelte er und zog ungläubig die Augenbrauen nach oben.
„Sie sieht rüber. Ich glaub, sie hat uns entdeckt. Jetzt kommt sie her, verdammt.“ Crobs grinste.
Beinahe glücklich.
Jay steckte den Zettel wieder weg.
Er stammte aus einer Zeit, die noch nicht da war; in der er definitiv keinen Job mehr als Verkäufer in einer billigen Fast-Food-Kette hatte.
Dann starrte er in den Winterhimmel hinauf und sah etwas Kleines vor dem großen Mond.
Rachena hatte einen Hut auf, riesig.
Sie streckte ihm die Zunge raus, machte das Peace-Zeichen, während sie die Beine überschlug. Mr. Clockwell, ganz untot, hielt seinen Sarg fest und grüßte ihn fröhlich.
Die kleine, drahtige Frau saß auf seiner Schulter. Oder auch nicht.
Jay war sich nach den Ereignissen nicht mehr sicher, was er glauben sollte.
Was brachte es aber auch?
Es war Weihnachten und nach einer kleinen Unendlichkeit gab es endlich wieder Geschenke.
Und das war doch das Wichtigste, oder?
10. Dezember
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