Pharmakon
keiner Wimper, als Adam das Pflaster abriß, das den dünnen Schlauch an Ort und Stelle hielt, und dann die Braunüle herauszog.
»Wenn ich Sie aufrichte, glauben Sie dann, daß Sie gehen können?«
Wieder bekam er keine Antwort.
Adam faßte Alans Bettdecke und war gerade dabei, sie zurückzuschlagen, als er den Strahl einer Taschenlampe über die Decke der Abteilung tanzen sah. Indem er zu den doppelten Eingangstüren blickte, sah Adam, wie die Schwester ihren Daumen gegen den Abtaster drückte. Die Türen gingen auf, und Adam ließ sich auf den Boden gleiten und versteckte sich unter dem Bett.
Die Schwester ging den mittleren Gang hinauf und leuchtete mit ihrer Taschenlampe jeden einzelnen Patienten an. Adam hielt den Atem an, als sie an Alans Bett vorbeiging, und hoffte, sie würde den losgelösten Tropf nicht entdecken. Sie hielt jedoch nicht einmal inne. Adam konnte sehen, wie sich ihre Füße zum Ende der Abteilung bewegten, dann kehrtmachten und zurückgingen. Die Doppeltüren glitten auf, und die Schwester ging wieder hinaus.
Da er vermutete, sie würde eine Weile lang nicht zurückkommen, glaubte Adam, es sei ein gelegener Zeitpunkt, seinen Plan zu verwirklichen. Er zog Alans Decken zurück, ergriff seine Arme und half ihm über die Kante des Bettes. Dann hob er Alans Oberkörper, so sanft er konnte, und ließ den Mann auf den Boden sinken. Es gab einen leichten Schlag, als seine Beine auf den Boden trafen, aber niemand im Schwesternzimmer schien das gehört zu haben.
»Können Sie auf dem Boden entlang kriechen?« flüsterte Adam Alan ins Ohr.
Er bekam keine Antwort.
Er weigerte sich aufzugeben, faßte Alans Hand und begann, ihn auf dem Boden entlangzuziehen. Zu seiner Überraschung reagierte Alan und begann bald, selbständig weiterzukriechen. Es sah so aus, als ob er nichts tun könnte, wenn ihm nicht gezeigt wurde, was er machen solle.
Sie schafften es bis zum Ende der Abteilung. Als Adam zurückblickte, war im Schwesternzimmer alles ruhig. Die nächsten zwanzig Schritt würden die gefährlichsten sein. Sie mußten den Schutz der Betten verlassen und den Korridor entlang zur Treppe kriechen. Wenn jemand in ihre Richtung blicken würde, mußte er sie sehen. Als sie die Tür erreichten, öffnete sie Adam ein paar Zentimeter und war erschreckt, als vom Treppenhaus Licht durch den Spalt fiel. Er hielt den Atem an, öffnete die Tür weiter und drängte Alan durch. Einen Augenblick später waren sie in Sicherheit.
Adam stand auf und streckte sich. Dann beugte er sich vor und hob Alan auf die Füße. Zuerst war er etwas wackelig auf den Beinen, gewann aber nach ein paar Sekunden sein Gleichgewicht.
»Können Sie mich verstehen«, fragte Adam. Da war der Hauch eines Nickens, aber Adam war sich dessen nicht sicher. »Wir werden hier herauskommen!« Indem er Alan an der Hand nahm, führte er ihn die Treppe hinauf. Alan ging, als ob er keine Idee habe, wo seine Füße seien, aber als sie das dritte Stockwerk erreichten, wurden seine Bewegungen koordinierter. Man hatte den Eindruck, es würde für ihn leichter, je mehr er tun müsse. Als sie auf dem Dach ankamen, schien Alan wieder unter seiner eigenen Kontrolle zu funktionieren. Eine solch schnelle Besserung ließ Adam zu der Vermutung gelangen, daß Alan eine kleine, aber konstante Dosis Beruhigungsmittel durch den Tropf bekommen habe. Als sie auf das Dach hinaustraten, schien Alan fast aufzuwachen, und Adam bemerkte, daß die Pupillen seiner Augen nicht mehr ganz geweitet waren. Dennoch stand weiterhin außer Frage, Alan könne an dem Seil drei Stockwerke zum äußeren Gebäude hochklettern. Adam war sich nicht sicher, ob er es selbst schaffen werde, und verfluchte seinen Mangel an Voraussicht, ihre Flucht nicht besser geplant zu haben.
Als er auf den parkähnlich gestalteten Zwischenraum zwischen dem Krankenhaus und dem nächsten Gebäude blickte, wußte er, daß sie wahrscheinlich leichter hinunter- als hinaufgelangen könnten, er vermutete aber, aus dem umschlossenen Garten gebe es keine Fluchtmöglichkeit.
Voller Angst, Alans Abwesenheit könne bemerkt werden, begriff Adam, daß er handeln müsse. Da ihm eine bessere Idee fehlte, nahm er das Ende des Seiles und band es Alan unter den Armen um die Brust. Dann ergriff er das Seil und begann, sich selbst an der Seite des Gebäudes hochzuziehen. Der schwierigste Teil kam ganz oben auf ihn zu, als er das Seil loslassen und die Kante der Mauer fassen mußte. Seine Füße quirlten in der Luft herum, als
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