Philosophenportal
Gründungsurkunde
des Christentums.
Die Philosophie dagegen lehnt Offenbarungen als Erkenntnisquelle ab. Sie stützt sich vielmehr auf Vernunft und Erfahrung und
bemüht sich, die Mehrdeutigkeit der Bildersprache durch eine eindeutige Begriffssprache zu ersetzen. Doch auch unter den großen
Werken der Philosophie gibt es Bücher, die sich in Form und Sprache bewusst an religiöse Offenbarungsbücher anlehnen. In der
Philosophie der Moderne ist Friedrich Nietzsches
Also sprach Zarathustra
das prominenteste Beispiel. Der feierliche Verkündigungs- und »Evangelienstil« des Buches hebt sich deutlich von der nüchternen
Argumentationsweise anderer philosophischer Klassiker ab.
Nietzsche hat mit diesem Buch seinen ganzen Ehrgeiz als Philosoph und Dichter verbunden. Er sah sich als philosophischer Prophet,
der das Ende des alten und den Beginn eines neuen Zeitalters einläuten wollte. Die alte Metaphysik, die alte Moral, vor allem
aber der Glaube an ein Jenseits sollten zu Grabe getragen und der freie, |165| der natürliche Mensch wieder in seine Rechte eingesetzt werden. Eine religiöse Verkündigung ist
Also sprach Zarathustra
deshalb nur der Form, nicht dem Inhalt nach. An die Stelle der religiösen Frömmigkeit setzt Nietzsche eine Weltfrömmigkeit.
Der
Zarathustra
ist deshalb eine gegen die herkömmliche Religion, insbesondere gegen das Christentum, gerichtetete Verkündigung – eine Bibel
des Antichristen.
Schon mit dem ersten Satz schlägt das Buch seinen charakteristischen biblischen Ton an: »Als Zarathustra dreißig Jahre alt
war, verließ er seine Heimat und den See seiner Heimat und ging in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit
und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz,– und eines Morgens stand er mit der Morgenröte
auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also: ›Du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen
du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein,
ohne mich, meinen Adler und meine Schlange ... Ich muss, gleich dir,
untergehen
, wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will. So segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein allzugroßes
Glück sehen kann! Segne den Becher, welcher überfließen will, dass das Wasser golden aus ihm fließe und überallhin den Abglanz
deiner Wonne trage! Siehe! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.‹«
Zarathustra, der Name des persischen Religionsstifters des 6. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts, ist die Maske, die sich
Nietzsche zum Zwecke seiner Verkündigung aufsetzt. Es ist allerdings nicht die Zarathustra-Religion, sondern die Bibel, insbesondere
das christliche Neue Testament, auf das Nietzsche mit Parallelen und Gegensätzen beständig anspielt. Zarathustra ist Nietzsches
Gegenfigur zu Jesus von Nazareth. Während Zarathustra sich mit dreißig Jahren zurückzieht, beginnt Jesus im gleichen Alter
seine Lehrtätigkeit. Jesus predigt die Tugenden der Demut und intellektuellen Bescheidenheit, Zarathustra umgibt sich mit
dem Adler und der Schlange, den Symbolen des Stolzes und der Klugheit. Jesus kommt als Sohn und Botschafter eines |166| jenseitigen Gottes, Zarathustra erbittet sich den Segen der Sonne, des Lichtes der diesseitigen, natürlichen Welt.
Doch es gibt auch viele Gemeinsamkeiten. Wie Jesus will Zarathustra nach seiner Zeit der Zurückgezogenheit zu den Menschen
gehen, er will ein Mensch wie jeder andere werden. Er will »untergehen«, sich also wie Jesus für seine Sache opfern. Aber
auch die Bedeutung »hinuntergehen« schwingt hier mit: Zarathustra steigt von seinem Berg zu den Menschen hinab. Wie Jesus
gelangt er an einen Kreuzweg und ist von »Jüngern« umgeben. Und wie sich Jesus in der biblischen Geschichte vor seiner Kreuzigung
auf den Ölberg vor Jerusalem zurückzieht, um zu beten, so fügt auch Nietzsche vor den entscheidenden Passagen seines Buches
den Abschnitt »Auf dem Ölberge« ein – für Zarathustra allerdings kein Ort der Angst und der Versuchung, sondern ein »Sonnen-Winkel«,
ein Quell der Kraft.
Im Neuen Testament sollte das alttestamentarische Gesetz des Moses durch ein neues Gesetz abgelöst werden. Auch Zarathustra
sieht sich als Verkünder eines neuen Gesetzes: In dem Kapitel »Von alten und neuen Tafeln« sitzt er
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