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Im letzten Teil setzt sich der gealterte, inzwischen weißhaarige
Zarathustra mit jenen auseinander, die er »höhere Menschen« nennt: die Sinnsucher, die sich mit der Leere des modernen Lebens
nicht zufrieden geben, aber ihre alten Ideale verloren haben.
Zarathustras Botschaft gipfelt in der Aufforderung, zur Welt Ja zu sagen, zur Welt, so wie sie ist und immer war. Es ist die
Aufforderung, das Leben nicht zu verschenken zugunsten von Idealen, die die Welt selbst schlechtreden und uns ein Wolkenkuckucksheim
»hinter« dieser Welt vorgaukeln.
Also sprach Zarathustra
will einen Blick auf die Welt werfen, der nicht durch den Schleier von Metaphysik und Moral verstellt ist. Der Sinn der Welt
liegt nach Nietzsche nicht in Gott oder in einer »moralischen Weltordnung«, sondern schlicht in ihr selbst.
|171| Diese veränderte »Weltanschauung« führt auch zu einer veränderten »Lebensanschauung«, zu einer neuen Einstellung zum Leben
»jenseits von Gut und Böse«. Der Mensch soll sich von der Vernunft-, der Geist- und Morallastigkeit befreien, er soll sich
der konkreten, sinnlich erfahrbaren Welt zuwenden, er soll die Erfüllung im Diesseits suchen. Nietzsche hat diese Neuorientierung
des Menschen auch als »große Gesundheit« bezeichnet.
Nietzsche sieht sich und sein Werk als den End- und Wendepunkt eines langen Prozesses in der Geschichte des menschlichen Selbstverständnisses.
In dem Kapitel »Von den drei Verwandlungen« im ersten Teil des Buchs hat er die Stadien dieses Prozesses mit drei Bildern
bezeichnet: dem Kamel, dem Löwen und dem Kind. In der ersten Verwandlung wird der Geist zum Kamel. Nietzsche spielt hier unter
anderem auf die Entstehung der großen monotheistischen Religionen an – Judentum, Christentum und Islam –, die alle in der Wüste entstanden sind und deren Denken auch die Philosophie jahrhundertelang geprägt hat.
Das Kamel ist ein Last tragendes Tier, es ist, in Nietzsches Worten, ein »tragsamer Geist«. Es ist das Sinnbild einer Haltung,
die sich das Leben »schwer macht«. Wahrheit und Erlösung sollen sauer verdient werden, indem man bewusst Opfer und Schwierigkeiten
auf sich nimmt und sich unter die Herrschaft eines »Gesetzes« stellt. Kamele sind zum Beispiel die streng gläubigen Christen,
die Mönche und Asketen, die bewusst auf die Genüsse der Welt verzichten. Ihre Moral ist für Nietzsche das Werk der Zu-kurz-Gekommenen,
mit dem die Starken und Vitalen gebändigt werden sollen.
In dem Kapitel »Vom Geist der Schwere« im dritten Teil des
Zarathustra
hat sich Nietzsche zu dieser Haltung noch einmal ausführlicher geäußert. Der Mensch, der in diesem Geist lebt, ist fremdbestimmt.
Er hat sich unter das künstliche Gesetz von Gut und Böse gestellt. Es ist die demütige, lebensfeindliche Existenz – jahrhundertelang
gelehrt auf den »Lehrstühlen der Tugend«. Statt sich selbst anzunehmen, wird vom Menschen erwartet, die Anstrengung der Selbstverleugnung
auf sich zu nehmen.
Mit der zweiten Verwandlung, der Verwandlung vom Kamel zum |172| Löwen, emanzipiert sich der Geist von einer Haltung, die von der Unterordnung unter religöse oder moralische Gesetze bestimmt
ist. Der Löwe ist Nietzsches Sinnbild für den freien, kritischen Geist, wie er in Europa vor allem in der Aufklärung auftrat.
Der freie Geist beruft sich auf die Vernunft und wendet sich gegen seinen alten Herrn, den »großen Drachen«, wie Nietzsche
ihn nennt. Die Zeit der »tausendjährigen Werte«, der Gebote, und des »Du sollst!« ist für den freien Geist vorbei. Mit der
Abwendung von der alten Moral ist auch die Abwendung von Gott verbunden. Schon in den Schriften vor dem
Zarathustra
hatte Nietzsche das Schlagwort geprägt: »Gott ist tot!« Der Pfarrerssohn Nietzsche bekannte sich plakativ und provokativ zum
Atheismus.
Doch Nietzsche hat zur Aufklärung ein zwiespältiges Verhältnis: Während er die Kritik der Aufklärer an Religion und Metaphysik
unterstützt, sind ihm die Forderungen nach einem neuen Vernunftgesetz, nach materieller Besserstellung und nach politischer
Emanzipation fremd. Er ist nicht nur ein radikaler Kritiker der Tradition, sondern auch ein radikaler Kritiker des modernen
Zeitalters, das sich den aufklärerischen Ruf nach Fortschritt zu Eigen gemacht hat. So greift er gerade die Ideen an, die
in seiner Zeit als fortschrittlich galten: die Forderungen nach Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, wie sie seit der
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