Philosophenportal
vor den zerbrochenen alten
Tafeln – womit nicht nur die Gesetzestafeln des Moses gemeint sind, sondern der gesamte Moralkodex des christlichen Europas.
Nietzsches Figur des Zarathustra ist der Stifter einer besonderen Art »Religion«, er ist Verkünder einer philosophischen Diesseitsreligion
und einer neuen Weltgläubigkeit.
Religion hat bei Nietzsche von früher Kindheit an eine maßgebliche Rolle gespielt. Wie viele deutsche Dichter und Philosophen
des 18. und 19. Jahrhunderts stammte er aus einem protestantischen Pfarrhaus. 1844 in Röcken bei Leipzig geboren, besuchte er nach dem frühen
Tod des Vaters die Eliteschule Schulpforta bei Naumburg. Der junge Friedrich war ein sensibles und hochbegabtes, vor allem
aber ein sehr frommes Kind, das sich ausgezeichnet in der Bibel auskannte. In der Schule erhielt er sogar den Spitznamen »der
kleine Pastor«.
Doch bereits in die Schulzeit fällt Nietzsches Abwendung vom Christentum. Musik und Dichtung, vor allem aber die Kultur der
Antike prägen von nun an seine geistige Entwicklung. Von der Beschäftigung |167| und der Auseinandersetzung mit dem Christentum hat sich Nietzsche jedoch nie gelöst. So empfand er früh den Gegensatz zwischen
dem nordisch-protestantischen, von Sünde und Schuld bestimmten Weltbild und dem der Sinnlichkeit zugewandten griechischen
Weltbild.
Die antike Kultur steht auch im Zentrum seiner Universitätszeit. Nach fünf Jahren des Studiums der klassischen Philologie
wird Nietzsche, ohne Examen und Doktortitel, als Professor nach Basel berufen. Aber er bleibt hier nur wenige Jahre. Nietzsche
war kein akademischer, »wissenschaftlicher« Typ. Ihn zog es über die Fach- und Gattungsgrenzen hinweg zu einem Denken, das
die Trennlinie zwischen Philosophie und Dichtung immer wieder überschreitet oder ignoriert. Verbunden mit gesundheitlichen
Problemen war dies auch der Anlass, sich vom akademischen Lehrbetrieb zurückzuziehen. Fortan führt er ein unstetes Leben und
wohnt in Hotels oder bei Freunden. Immer wieder zieht es ihn in den »hellen« Süden, in die Alpen- und Mittelmeerregion, eine
Landschaft, die ihn inspiriert und in der sich sein eigenes Weltbild formt.
Bereits als Baseler Professor hatte er mit seiner unorthodoxen Erstlingsschrift Furore gemacht:
Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
(1872). Auch hier geht es um die Antike. Nietzsche greift das Bild der griechischen Kultur an, wie es durch die deutsche Klassik
und insbesondere durch den Archäologen Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768) verbreitet worden war. Dieser hatte als Ideal der griechischen Kunst »edle Einfalt und stille Größe« ausgemacht. Am
Beispiel der griechischen Tragödie zeigt Nietzsche, dass es neben dieser Welt des Traums und des schönen Scheins, die er das
»Apollinische« nennt, auch eine tiefere Dimension in der griechischen Kunst gibt: das »Dionysische«. Es ist der Bereich der
ungebändigten und ungezähmten Vitalität, der »rauschvollen Wirklichkeit«.
Apoll, von Nietzsche als Gott des Maßes verstanden, und Dionysos, Gott des Rausches, des Lebens und des Todes, werden zu Taufpaten
nicht nur zweier Kunstprinzipien, sondern auch zweier unterschiedlicher Lebenshaltungen. In seinem eigenen Jahrhundert sieht
Nietzsche das Dionysische in der Metaphysik Arthur Schopenhauers und |168| in der Musik Richard Wagners ausgedrückt. Für Schopenhauer war die Welt durch die irrationale Triebkraft eines kosmischen
»Willens« bestimmt, eine Einsicht, die seine pessimistische Weltdeutung begründete.
Es war die Hinwendung zum Dionysischen, die seitdem Nietzsches Denken bestimmte. Sowohl von Schopenhauer als auch von Wagner
sagte er sich jedoch bald los: Schopenhauer hatte in seiner Ethik Askese und Mitleid und damit Weltentsagung gepredigt. Wagner
war ihm in seinen späten Opern gefolgt und hatte sich damit in den Augen Nietzsches wieder in den Schoß des Christentums zurückbegeben.
Auch von Schopenhauers pessimistischer Weltdeutung wandte sich Nietzsche, obwohl ursprünglich selbst Pessimist, nun ab. Er
begann, das Irrationale aufzuwerten und zu bejahen.
In seinen großen Aphorismenbüchern
Menschliches, Allzumenschliches
(1876-1880),
Morgenröte
(1880 / 81) und
Die fröhliche Wissenschaft
(1882) feiert er den »freien Geist«, der sich von den Fesseln einer dekadenten Kultur löst, welche den Menschen einer lebensfeindlichen
Moral unterwirft und die konkrete, sinnlich
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