Philosophenportal
Mittel zu einer logischen Analyse der Sprache zu entwickeln. Russell hatte zum Beispiel
darauf hingewiesen, dass unsere normale Sprache keineswegs »logisch« konstruiert ist. Die Sätze »Peter schlägt Kurt« und »Kurt
wird von Peter geschlagen« zum Beispiel sind von ihrer grammatischen Struktur her verschieden, obwohl sie denselben Vorgang
beschreiben, logisch also gleichwertig sind. Frege hatte eine neue logische Formelsprache entwickelt, eine Kunstsprache, die
es erlaubte, komplexe Aussagen auf einfache, logisch eindeutige Aussagen zurückzuführen. Mit diesen Arbeiten hatten Frege
und Russell die Logik, die seit den Zeiten des Aristoteles beinahe unverändert gelehrt worden war, auf eine neue Grundlage
gestellt.
1911 machte sich Wittgenstein nach Jena auf, um mit Frege persönlich Fragen der Logik zu erörtern. Obwohl er noch für ein
weiteres Jahr in Manchester ein Stipendium erhalten hatte, sah er sich nun an einem Scheideweg: Sollte er das Studium abschließen
und in die Fußstapfen seines Vaters treten oder sollte er sich der Logik und damit einer Fundamentaldisziplin der Philosophie
widmen? Frege empfahl ihm, zu Russell an die Universität Cambridge zu gehen, um |182| seine Studien der Mathematik und Logik zu vertiefen. Wittgenstein befolgte den Rat und brach sein Ingenieurstudium ab: Von
nun an bestimmte die Philosophie sein Leben.
Von diesem Zeitpunkt an trug er sich auch mit dem Vorhaben, ein eigenes philosophisches Werk zu verfassen, das auf den Arbeiten
Freges und Russells aufbauen sollte. Es sollte aber auch ihn selbst in seinem Selbstverständnis als Genie bestätigen und damit
sein Leben rechtfertigen. Vom Gelingen dieses Plans hing deshalb für ihn viel, wenn nicht alles ab, und er lebte in beständiger
Furcht, vor Vollendung des Werks zu sterben.
In Cambridge wurde er zum Freund und Meisterschüler Russells und zur interessantesten, aber auch schwierigsten Figur in der
dortigen Philosophieszene. Small Talk und die in der englischen akademischen Welt üblichen Höflichkeitsregeln waren ihm fremd.
Ein Mann der Gesellschaft, der Konversation und Diskussion wurde Wittgenstein nie. Er versah alle seine Aussagen mit einem
Absolutheitsanspruch. Es ging ihm immer um die Sache und um endgültige, unbezweifelbare Lösungen. Widerspruch verärgerte ihn
und provozierte ihn zu aggressiven Reaktionen, die seine Gesprächspartner vor den Kopf stießen. So geriet er auch mit seinen
Cambridger Lehrern, Russell und George Edward Moore, immer wieder aneinander. Phasen des fruchtbaren intellektuellen Austauschs
folgten Phasen der Flucht aus der Gesellschaft. So zog er sich 1913, kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, an einen einsamen
Fjord in Norwegen zurück, um erste Skizzen für das geplante Buch zu erstellen.
Im Gegensatz zu Russell, der wegen seiner pazifistischen Gesinnung eine Haftstrafe abbüßen musste, meldete sich Wittgenstein
bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs als Freiwilliger für die österreichisch-ungarische Armee. Zunächst diente er bei der Artillerie,
wobei ihn der ihm zugewiesene Bürodienst abseits der Kampfhandlungen nicht befriedigte. Er ließ sich deshalb 1916 direkt an
die Front nahe der rumänischen Grenze versetzen. Wittgenstein war kein Kriegschauvinist, aber er suchte in der ihm eigenen
extremen Art die persönliche Bewährung. Sich in unmittelbare Nähe des Todes zu begeben war für ihn eine moralische Forderung.
|183| Seine Lektüre während der Kriegsjahre gibt einigen Aufschluss über das, was ihn bewegte: Er las unter anderem Essays des amerikanischen
Philosophen Ralph Waldo Emerson, Romane von Dostojewskij und vor allem Tolstois
Kurze Erläuterung des Evangeliums
, die ihm in der Buchhandlung einer kleinen Frontstadt in die Finger gekommen waren. Tolstois Forderungen nach moralischer
Reinigung und Erlösung durch ein einfaches, der Nächstenliebe gewidmetes Leben beeindruckten ihn tief. Von Autoren wie Schopenhauer
und Tolstoi ist auch Wittgensteins mystisch-religiös gefärbtes Verständnis von Ethik geprägt: Es ging ihm nicht um die Begründung
moralischer Regeln, um konkrete Handlungsanweisungen, sondern um Erlösung von Leid und Schuld, um eine Haltung und eine Wandlung
der Persönlichkeit.
Durch die tägliche Konfrontation mit Sterben und Tod waren die großen ethischen und metaphysischen Fragen in Wittgensteins
Bewusstsein immer präsent. Sie standen auch im Hintergrund seines Buchs, das mitten in der
Weitere Kostenlose Bücher