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einen bestimmten Vorgang oder Gegenstand richtet. Es ist die Angst vor dem Unbekannten eines
selbst gestalteten, offenen Lebens. Die Selbstverständlichkeiten des Lebens geraten ins Schwanken, das Nichts bricht auf und
damit aber auch die Möglichkeit, das entstandene Vakuum zu füllen, die Möglichkeit, die eigene |206| Existenz selbst zu wählen. Die Angst, so schreibt Heidegger, offenbart »das Freisein für die Freiheit des Sich-selbst-Wählens«.
Dieses Erwachen des Menschen zum Freiheitsbewusstsein ist begleitet von der Wahrnehmung der eigenen Sterblichkeit. Unter der
Herrschaft des Man wird der Tod aus dem Leben verdrängt. Wenn Heidegger sagt, dass das Leben ein »Vorlaufen« auf den Tod ist,
dann meint er nicht nur die banale Tatsache, dass am Ende unseres Lebens der Tod steht. Die Zeit ist bei Heidegger kein Raum,
den wir durchschreiten, sondern sie ist in uns, sie durchzieht wie ein roter Faden unser Selbstverständnis, unsere »Lebensanschauung«.
Die Zeit ist etwas, das vom Menschen vollzogen wird.
Um sie als Vorgang und Vollzug kenntlich zu machen, prägt Heidegger das Wort »zeitigen«. Indem wir uns der eigenen Sterblichkeit
bewusst werden, nehmen wir auch die Zeit bewusst in unser Lebensverständnis auf. Das menschliche Leben, das Dasein, ist ein
»Sein zum Tode« in dem Sinne, dass es mit der Erkenntnis seiner Grenzen auch die Lebensintensität und die Dringlichkeit eines
eigenen Lebensentwurfes erhöht.
Diese Dringlichkeit wird dem Menschen nicht allmählich bewusst, sondern in einem Appell, einem Aufruf, den er quasi an sich
selbst richtet. Heidegger verwendet hier Begriffe wie »Gewissen« und »Schuld«, entkleidet sie aber von der traditionellen
moralischen und religiösen Bedeutung. Als »Ruf des Gewissens« bezeichnet er das Aufwachen aus der konventionellen Lebensweise
des Man. Mit »Schuld« meint er das Bewusstsein, etwas aus sich machen zu müssen, seinen eigenen Existenzmöglichkeiten etwas
»schuldig« zu sein.
Der Mensch ist in das Dasein geworfen. Der Ruf des Gewissens, der ihn an seine »Schuld« erinnert, bringt ihn jedoch dazu,
nicht passiv zu bleiben, sondern auf die Herausforderung des Daseins mit einem eigenen Entwurf zu antworten, also das Dasein
zur Existenz zu machen. In der Annahme dieser Herausforderung liegt die »Entschlossenheit«. In der für Heidegger eigentümlichen
Sprache lautet dies: »Entschlossenheit besagt: Sichvorrufenlassen auf das eigenste Schuldigsein.« Der Mensch muss sich nach
Heidegger stellen: Ein Verhältnis zum Sein, eine eigenständige Existenz führt er nur dann, |207| wenn er im Bewusstsein der Zeit lebt, wenn er im Bewusstsein seiner Vergangenheit, im Ergreifen der Gegenwart und im Hinblick
auf seine Möglichkeiten in der Zukunft lebt. Wer sich der Diktatur des Man unterwirft, vergisst seine Vergangenheit und verliert
sich in alltäglichen »Besorgungen«.
Viele hat es irritiert, dass
Sein und Zeit
keine Antwort auf die Frage gibt,
wozu
man sich in seinem Lebensentwurf entscheiden soll, wie die Existenz, das selbstbestimmte Dasein inhaltlich aussieht. Doch
die Botschaft des Buches ist vielmehr: Wichtig ist nicht,
wozu
du dich entscheidest, sondern
dass
du dich der Herausforderung des Lebens stellst und einen eigenen Lebensentwurf wählst, der nicht im Man, in Konventionen und
Belanglosigkeiten, stecken bleibt.
Sein und Zeit
ruft zu einer Lebenshaltung, zu einer Entscheidung und zu einer Wahl auf. Wie diese Entscheidung aussieht, bleibt dem Einzelnen
überlassen.
Mit der These, dass das Verhältnis des Daseins zum Sein immer durch die Zeit geprägt ist, deutet sich zumindest an, in welcher
neuen Weise Heidegger auch den Begriff des »Seins« versteht. Ein ewiges, unveränderliches Sein oder ein Leben, das sich an
einem unveränderlichen, zeitunabhängigen Maßstab ausrichtet, gibt es bei ihm nicht mehr. »Sein« und »Zeit« stehen in einem
engen Zusammenhang. Wie dieser Zusammenhang genau zu erklären ist, erfährt der Leser allerdings nicht. Heideggers Buch bricht
mit Fragen ab: »Führt ein Weg von der ursprünglichen Zeit zum Sinn des Seins? Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont
des Seins?«
Weil diese Fragen nicht mehr erörtert werden, ist
Sein und Zeit
auch nicht die von Heidegger in der Einleitung angekündigte »Fundamentalontologie« geworden. Stattdessen enthält das Werk
eine Theorie über den Menschen und sein Verhältnis zur Welt, in der die Möglichkeiten
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