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Physiologie der Ehe (German Edition)

Physiologie der Ehe (German Edition)

Titel: Physiologie der Ehe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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ersten in der von uns angenommenen kritischen Lage einer Ehe der Fall ist.
    Ans unsern Bemerkungen über die Zwillingsbetten haben die Ehemänner entnehmen müssen, daß sie gewissermaßen verpflichtet sind, stets auf den Wärmegrad gestimmt zu sein, der die harmonische Organisation ihrer Frauen temperiert. Und da meinen wir nun, diese vollkommene Gleichheit der Gefühlsstimmungen muß sich unter der weißen Ägide, die die beiden Gatten mit ihrem schützenden Linnen bedeckt, auf recht natürliche Weise einstellen; dies ist aber bereits ein unermeßlicher Vorteil!
    Denn nichts ist leichter, als zu jeder Stunde bei einer Frau den Grad von Liebe und Anschmiegungsbedürfnis festzustellen, wenn dasselbe Kissen die Köpfe der beiden Gatten aufnimmt.
    Der Mensch – wir sprechen hier von der Gattung Mensch – hat bei sich eine Art von stets in Ordnung gehaltenem Inventarverzeichnis, worauf deutlich und ohne Irrtum die Summe der ihm innewohnenden Sinnlichkeit angegeben ist. Dieser geheimnisvolle ›Gynometer‹ ist die menschliche Hand. Die Hand ist ohne Zweifel von unsern Organen dasjenige, das unsere sinnlichen Erregungen am unmittelbarsten überträgt. Die ›Chirologie‹ ist ein fünftes Werk, das ich meinen Nachfolgern vermache, denn ich werde mich damit begnügen, hier nur auf die für meinen Gegenstand in Betracht kommenden Grundzüge dieser Wissenschaft aufmerksam zu machen.
    Die Hand ist das recht eigentliche Werkzeug des Tastsinnes. Nun ist aber der Tastsinn gerade derjenige Sinn, der noch am wenigsten unvollkommen alle andern Sinne zu vertreten vermag, während keiner dieser Sinne ihn ersetzen kann. Die Hand, die ganz allein alles ausgeführt hat, was bis jetzt der Mensch ersann, ist gewissermaßen geradezu gleichbedeutend mit ›Handlung‹. Durch sie betätigt sich die Gesamtsumme ihrer Kraft, und es ist bemerkenswert, daß fast alle Menschen von mächtiger Intelligenz schöne Hände gehabt haben, deren Vollkommenheit das charakteristische Anzeichen eines hohen Geschickes ist. Jesus Christus hat alle seine Wunder durch Handauflegen gewirkt. Die Hand schwitzt gewissermaßen Leben aus, und überall, wo sie hingelegt wird, läßt sie die Spuren einer Zaubermacht zurück; daher kommt denn auch auf ihre Rechnung die Hälfte aller Wonnen der Liebe. Sie verrät dem Arzt alle Geheimnisse unseres Organismus. Mehr als irgendein anderer Teil des Körpers strömt sie Nervenfluidum aus, den geheimnisvollen Stoff, den wir in Ermanglung eines andern Ausdrucks als ›Willen‹ bezeichnen müssen. Das Auge kann den Zustand unserer Seele malen, aber die Hand teilt gleichzeitig die Geheimnisse des Körpers und die des Gedankens mit. Wir bringen es dahin, unsern Augen, unsern Lippen, unsern Brauen, unserer Stirn Schweigen zu gebieten; aber die Hand heuchelt nicht, und kein einziger unserer Züge läßt sich an Reichtum der Ausdrucksfähigkeiten mit ihr vergleichen. Die Wärme und die Kälte der Hand weisen so unmerkliche Nuancen auf, daß diese der Wahrnehmung oberflächlicher Menschen entgehen; aber wer sich auch nur ein wenig mit der Anatomie der Gefühle und der Dinge des Menschenlebens beschäftigt hat, der weiß diese Nuancen zu unterscheiden. So ist die Hand zum Beispiel auf tausendfach verschiedene Art trocken, feucht, glühendheiß, eiskalt, weich, rauh, fettig. Sie zuckt, sie wird fettig, wird hart, wird weich. Mit einem Wort: sie ist ein unerklärliches Phänomen, das man als die ›Verkörperung des Gedankens‹ bezeichnen möchte. Sie bringt den Bildhauer und den Maler zur Verzweiflung, wenn sie das wechselnde Labyrinth ihrer geheimnisvollen Linienverschlingungen wiedergeben wollen. Einem Menschen die Hand hinstrecken, heißt: ihn retten. Sie ist das Unterpfand aller unserer Gefühle. Zu allen Zeiten haben Zauberinnen behauptet, sie könnten in ihren Linien unsere künftigen Geschicke lesen; die Linien haben nichts Phantastisches an sich, sondern entsprechen den Grundursachen unseres Lebens und Charakters. Wenn eine Frau einen Mann des Mangels an ›Takt‹ beschuldigt, so verurteilt sie unwiderruflich. Endlich spricht man ja auch von der ›Hand der Gerechtigkeit‹ von der ›Hand Gottes‹; und von einem ›Handstreich‹, wenn man eine besonders kühne Unternehmung bezeichnen will.
    Durch die barometerartigen Veränderungen der Hand, die eine Frau fast immer ohne Mißtrauen ihrem Manne überläßt, die Gefühle erkennen zu lernen, das ist ein weniger undankbares und sichereres Studium als die Physiognomik.
    Du

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