Picknick mit Bären
(»notch« bedeutet im Sprachgebrauch von New Hampshire Bergpaß). Das ist ein berühmtes, wunderschönes Fleckchen Erde zu Füßen imposanter Gipfel, mitten im 283.000 Hektar großen White Mountain National Forest gelegen. Der Mount Lafayette – das sind 1.599 Meter steil aufragender, unbarmherziger Granitfels. In einem Reisebericht von 1870, der in dem Buch Into the Mountains zitiert wird, heißt es: »Mt. Lafayette… ist ein wahrer Alptraum, mit Gipfeln und Spitzen, auf denen Blitz und Donner ihr Spiel treiben. Die Hänge sind braun und weisen Schrammen und tiefe Spalten auf.« Stimmt. Lafayette ist ein Monster. Nur der nahegelegene Mount Washington übertrifft ihn noch an Wuchtigkeit und Beliebtheit als Wanderziel in den White Mountains.
Von der Talsohle gerechnet mußten wir 1.130 Meter erklimmen, 600 Meter auf den ersten drei Kilometern und drei kleinere Gipfel unterwegs – Mount Liberty, Little Haystack und Mount Lincoln –, aber es war ein herrlicher Morgen, die Sonne schien nicht zu heiß, und uns umgab die belebende, pfefferminzklare, saubere Luft, die es nur in den Bergen des Nordens gibt. Kurz: alles, was man für einen makellosen Tag braucht. Wir gingen ungefähr drei Stunden, redeten wegen des steilen Anstiegs nur wenig, freuten uns bloß darüber, draußen im Freien zu sein und gut voranzukommen.
Jeder Wanderführer, jeder erfahrene Hiker, jede Informationstafel neben den Parkplätzen am Ausgangs- oder Zielort einer Wanderstrecke warnt davor, daß das Wetter in den White Mountains innerhalb von Sekunden umschlagen kann. Camper, die in kurzen Hosen und mit Turnschuhen in luftigen Höhen nur einen Spaziergang machen wollten und wenige Stunden später in dichtem, eiskalten Nebel ihrem Tod entgegentaumeln – das sind Geschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählt, aber sie sind leider auch wahr. Wenige hundert Meter unterhalb des Gipfels von Little Haystack Mountain passierte uns das gleiche. Urplötzlich war die Sonne verschwunden, und wie aus dem Nichts rollte eine Dunstwolke zwischen den Bäumen heran. Damit ging ein so rapider Temperatursturz einher, als hätten wir einen Kühlraum betreten. Innerhalb von Minuten war der Wald in Nebel gehüllt, feucht und kühl. Die Baumgrenze in den White Mountains liegt an manchen Stellen bereits bei 1.460 Meter, halb so hoch wie in den meisten anderen Regionen, weil die Witterung sehr viel strenger ist, und jetzt sah ich auch warum. Als wir aus dem Krummholz hervortraten, die Zone aus verkrüppelten Bäumen, die den letzten Ausläufer des Waldes vor der Baumgrenze markiert, und das kahle Dach des Little Haystack betraten, schlug uns mit einem Mal ein heftiger Wind entgegen – die Sorte Wind, die einem die Mütze vom Kopf reißt und sie ein paar hundert Meter weiterweht, bevor man überhaupt dazu kommt, eine Hand zu heben. Vorher war er durch den Berg über uns auf den geschützten Westhang abgelenkt worden, aber jetzt fegte er ungehindert über den bloßliegenden Gipfel. Wir stellten uns in den Windschatten einiger Felsen, um unsere Regencapes überzuziehen. Sie spendeten uns zusätzliche Wärme, denn ich war schon von der schweißtreibenden Anstrengung und der feuchten Luft ganz naß am Körper – ein ziemlich unangenehmer Zustand, wenn die Außentemperaturen sinken und der Wind jede Körperwärme wegbläst. Ich machte meinen Rucksack auf, wühlte in meinen Sachen herum und schaute dann mit jenem Gesichtsausdruck hoch, der mit einer bestürzenden Erkenntnis einhergeht: Ich hatte mein Regencape vergessen. Ich durchwühlte noch einmal meinen Rucksack, aber es war ja kaum etwas drin – eine Karte, ein dünner Pullover, eine Wasserflasche und ein Lunchpaket. Ich überlegte kurz und erinnerte mich mit einem innerlichen Stoßseufzer daran, daß ich das Regencape ein paar Tage vorher ausgepackt, im Keller zum Lüften aufgehängt und dann vergessen hatte, es wieder einzupacken.
Bill, der das Band an der Kapuze seiner Windjacke strammzog, sah zu mir herüber. »Ist irgendwas?«
Ich sagte es ihm. Er machte ein besorgtes Gesicht. »Willst du umkehren?«
»Nein, nein.« Das wollte ich wirklich nicht. Außerdem, so schlimm war es nun auch wieder nicht. Es regnete nicht, mir war nur ein bißchen kühl. Ich zog den Pullover an und fühlte mich gleich besser. Wir schauten beide auf die Karte: Wir hatten schon fast alle Gipfel erklommen, und zum Lafayette waren es nur zweieinhalb Kilometer entlang eines Grats, danach folgte ein steiler 360 Meter tiefer Abstieg zur
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