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Pilger des Zorns

Pilger des Zorns

Titel: Pilger des Zorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Klausner
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hinter den dicht bewaldeten Höhen des Spessarts verschwunden. Er musste sich sputen. Sonst würde er vor verschlossenen Toren stehen.
    Allein schon der Gedanke daran ließ ihn frösteln, und auf einmal wogen die Goldmünzen, die er in sein Wams eingenäht hatte, tonnenschwer. Wind kam auf, und plötzlich beschlich ihn das Gefühl, man lauere ihm erneut auf. Die Sträucher, Büsche und Weinreben am Wegesrand warfen lange Schatten, weshalb er seinen Schritt merklich beschleunigte und wie von Furien gehetzt dem Tor zustrebte.
    Dort angekommen, blieb er schwer atmend stehen. Die eisenbewehrte Pforte war verschlossen, von den Bewohnern des Marktfleckens kein Mensch zu sehen. Von jenseits des Wallgrabens stiegen dünne Rauchschwaden auf, und aus dem Waldesdickicht jenseits des Flusses krochen die Schatten der Nacht hervor. Auf einmal, ohne dass er sich ihrer erwehren konnte, waren die Geister der Vergangenheit zum Leben erwacht und hefteten sich ihm an die Fersen. So dicht, dass er sich einbildete, den Atem des Pfandleihers im Nacken zu spüren.
    »Wohin des Weges, frommer Mann?«, tönte es ihm plötzlich aus einem nahe gelegenen Heuschober entgegen, und da er diesen Satz bereits zum zweiten Mal hörte, wirbelte er auf dem Absatz herum. Freilich nur, um sich einen Wimpernschlag später wieder zu entspannen.
    Plötzlich war er wieder der Alte. Ein Mann, der vor nichts und niemandem haltzumachen schien.
    »Überallhin und nirgends!«, salbaderte er, im sicheren Gefühl, bei der drallen Blondine mit den Sommersprossen und den prallen Eutern könne es sich eigentlich nur um die Dorfhure handeln. Ein Gefühl, das ihn auch dieses Mal nicht trog.
    Eine Hure. Zur Abwechslung mal etwas anderes. Obwohl es ihm eigentlich verwehrt gewesen wäre, hatte er Dutzende von Frauen gehabt. Die jüngste gerade einmal 14, die älteste fast dreimal so alt. Ein neuerliches Grinsen, widerwärtiger noch als zuvor. Und natürlich die Herrin der Henneburg. Ein Leckerbissen, der ihm um ein Haar zum Verhängnis geworden wäre.
    Aber eben nur um ein Haar.
    Warum also nicht auch einmal eine Hure. Drall, blond und üppig. Ganz anders als die Damen von Stand, die ihm bislang in den Schoß gefallen waren. In des Wortes ursprünglicher Bedeutung, wohlgemerkt. Wie pflegte er im Gegensatz zu Horaz doch zu sagen: »Carpe noctem! [9] «
    Zeit also, diese Weisheit in die Tat umzusetzen und sich die Langeweile, die bei einer Nacht in diesem Nest unweigerlich aufkommen musste, zu vertreiben.
    Ein Lächeln auf den Lippen, nahm er den Pilgerhut ab und machte eine galante Verbeugung. Das Mindeste, was er diesem lockeren Weibsstück schuldig war.
    Zwei Tage, höchstens drei. Dann wäre er über alle Berge.
    Für immer.

     

SONNENUNTERGANG
    Worin sich Bruder Hilpert wundert, weshalb es den Kapitän der ›CHARON‹ drängt, die Reise fortzusetzen.

     
    Es war ein Abend voll trügerischer Ruhe, und es gab nichts, das diese Ruhe unterbrach. Der Fluss, türkisfarben und bisweilen dunkelblau, wälzte sich träge dahin, und die Baumwipfel verschmolzen mit den Schatten der Nacht. Selbst der Fischreiher, der am gegenüberliegenden Ufer auf Beute lauerte, rührte sich nicht vom Fleck. Alles war friedlich und still, gerade so, als habe Gott den Menschen noch nicht erschaffen. Ein letztes, purpurfarbenes Aufglimmen, dann war die Sonne hinter den bewaldeten Höhen des Spessarts verschwunden.
    Die Hände auf der Reling, genoss Bruder Hilpert die Szenerie in vollen Zügen. Über die dumpfe Ahnung, dies hier sei die Ruhe vor dem Sturm, wollte er lieber nicht nachdenken. Dafür war der Abend viel zu schön, und er, Hilpert, viel zu ermattet, als dass er einen Gedanken an die vor ihm liegenden Tage verschwendet hätte.
    Da beobachtete er lieber den Schiffsjungen, der auf dem Achterdeck seine Angel auswarf. Richwyn, nicht faul, wenn es um das allgemeine Wohlbefinden ging, war gerade dabei, das Kohlebecken am Vordersteven zu erhitzen. Um zu verhindern, dass die Decksplanken Feuer fingen, stand es in einer ummauerten, mit Sand, Lehm und Schlamm gefüllten Kiste, neben der ein prall gefüllter Weinschlauch lag. Was fehlte, war lediglich der Fisch, doch daran herrschte im Main bekanntlich kein Mangel.
    Trotz der Sympathie, die er für den 16-jährigen, flachsblonden und überaus schüchternen Knaben hegte, schüttelte Bruder Hilpert den Kopf. Von einem Schiffsjungen hatte er im Umgang mit Angel, Haken und Köder eigentlich mehr Geschicklichkeit erwartet, und die Fruchtlosigkeit seiner

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