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 Pilot Pirx

Pilot Pirx

Titel: Pilot Pirx Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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zweiunddreißig. Sobald das Zeichen kam, wurde die Erwärmung des Wassers gestoppt, und einer der Assistenten setzte dem Kandidaten die Paraffinmaske auf. Dann wurde dem Wasser Salz beigemengt – gewöhnliches Kochsalz, kein Zyankali, wie die Absolventen des »Irrsinnigen Bades« allen Ernstes behaupteten. Man schüttete so lange Salz hinein, bis der »Patient« oder der »Ertrunkene« sich vom Boden löste und unter der Wasserfläche schwamm, ohne aufzut⁠auchen. Das einzige, was aus dem Bassin hervorlugte, waren die Metallröhrchen – der Student konnte also frei atmen. Das war im Grunde alles. Das Ganze nannten die Wissenschaftler »Behinderung der afferenten Stimuli«. Der »Ertrunkene« schwamm, die Arme über der Brust gekreuzt, im Bassin. Schon nach kurzer Zeit spürte er nicht mehr, daß er im Wasser war. Er sah nichts, hörte nichts, hatte weder Geruchs- noch Tastsinn – er glich einer ägyptischen Mumie, und die Frage war nur, wie lange er das aushielt. Wie lange?
    Eigentlich schien an dem Test nichts Besonderes zu sein, aber Pirx wußte, daß der Mensch in diesem Zustand die merkwürdigsten Dinge erlebte. Es hatte nicht viel Sinn, in den Lehrbüchern über experimentelle Psychologie zu blättern, denn die Erlebnisse der »Ertrunkenen« waren individuell sehr verschieden. Ein Drittel der Kandidaten brachte es übrigens noch nicht einmal auf drei Stunden, und nur wenige erreichten fünf oder sechs. Ausdauer war jedem zu empfehlen, denn den Besten winkten die interessantesten Ferienpraktika. Wer den ersten Platz hatte, erhielt ein Extrapraktikum, das mit den üblichen, meistens ein wenig langweiligen Aufenthalten auf Satellitenstationen nicht zu vergleichen war. Man wußte nie, wer sich als »Harter« erweisen würde, das »Bad« war eine schwere Belastungsprobe für die Konsistenz der Persönlichkeit.
    Pirx überstand den Anfang ziemlich glatt, wenn man davon absah, daß er sein Gesicht völlig unnötig ins Wasser tauchte, noch bevor er die Maske trug. Er schluckte einen Viertelliter Wasser und konnte sich bei dieser Gelegenheit davon überzeugen, daß es einfach nur salzig war.
    Als man ihm die Maske aufsetzte, begann es in seinen Ohren leise zu rauschen. Dunkelheit umfing ihn, das Wasser trug ihn leicht und reglos. Pirx hielt es für ratsam, ein wenig die Muskeln zu lockern. Er versuchte erst gar nicht, die Augen zu öffnen, wußte er doch, daß das unmöglich war – das Paraffin, das Wangen und Stirn umschloß, ließ keine Bewegung der Lider zu. Nach einer Weile begann ihn ein Juckreiz zu quälen. Er hätte sich gern die Nase und dann das rechte Auge gekratzt – aber da war die Maske. Von einem Jucken hatte er in den Berichten anderer »Ertrunkener« nichts gehört – offenbar war das sein ganz privater Beitrag zur experimentellen Psychologie. Er ruhte völlig gelähmt im Wasser, das seinen nackten Körper weder wärmte noch kühlte. Ihm war, als habe er aufgehört zu existieren.
    Pirx hätte ohne weiteres die Beine oder wenigstens die Zehen bewegen können, um sich zu überzeugen, daß sie naß und glitschig waren, aber er tat es nicht: Über ihm, an der Decke, wachte das unbestechliche Auge der Kamera – für jede Bewegung gab es Strafpunkte. Er lauschte in sich hinein und vernahm seine eigenen Herztöne, sie waren schwach, sie schienen aus riesiger Entfernung zu kommen. Das Jucken hatte nachgelassen, es gab nichts, was ihn belästigte – er fühlte sich soweit ganz wohl. Albert hatte die Röhrchen so geschickt in der Maske befestigt, daß man sie nicht spürte. Pirx spürte überhaupt nichts, die Leere wurde allmählich beängstigend. Zunächst verlor er das Gefühl für die Lage seines Körpers, er wußte nicht, wie er die Hände und die Füße hielt, erinnerte sich lediglich daran. Dann begann er zu überlegen, wie lange er bereits unter der weißen Paraffinmaske lag. Er hatte nicht die geringste Vorstellung, wieviel Minuten – Viertelstunden? – vergangen waren. Und das passierte ihm, der ein so gutes Zeitgefühl besaß, der auch ohne Uhr fast auf die Minute sagen konnte, wie spät es war!
    Während er noch darüber staunte, schwand sein eigenes Ich immer mehr dahin. Ihm war, als habe er keinen Leib, kein Gesicht – er begann sogar daran zu zweifeln, jemals existiert zu haben. Ein angenehmer Zustand war das nicht. Im Gegenteil, er war entsetzlich. Ihm schien, als löse sich sein Körper nach und nach im Wasser auf – andererseits war er sich gar nicht mehr bewußt, daß er im Wasser

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