Pinguine lieben nur einmal
verstehe jetzt zwar, dass Janosch nichts von seinem Vater wissen will. Aber warum sagt er es mir nicht? Er hätte den unangenehmen Teil aussparen und bloß sagen können, der Vater habe die Familie verlassen. Fertig. Ich bin mir sicher, dass ich die Sache darauf beruhen lassen hätte.
Simon holt tief Luft und setzt zum nächsten Teil der Geschichte an. Ich frage mich, was jetzt noch kommen soll, was noch kommen kann !
»Lene wurde schwer depressiv. Zu mir hat sie gesagt, sie hat irgendwie die Balance verloren und musste sich selbst davon abhalten, Janosch für das, was passiert war, zu hassen. Es hat sie ganz schön mitgenommen, dass sie in ihrem Inneren ihren Sohn für alles verantwortlich gemacht hat. War wohl ziemlich heftig. So heftig, dass…«
Ich will es gar nicht hören. Will ihm sagen, er solle bloß kein weiteres Wort sagen.
»So heftig, dass sie an dem Tag, als ihr Mann genau ein Jahr weg war, versucht hat sich umzubringen. Mit Schlaftabletten.«
Selbstmord? Janoschs quirlige, herzliche Mutter?
»Lene ist deshalb heute noch in Therapie. Schlimme Sache.«
Wie im Film, das waren Simons Worte. Ich glaube, wenn ich die Geschichte in einem Film gesehen hätte, hätte sie mich zu Tränen gerührt. Aber jetzt– nichts. Als könnte ich nicht über eine so reale Geschichte weinen. Es geht nicht. Der Kloß im Hals ist da, doch meine Augen bleiben trocken.
»Sie haben Janosch immer erzählt, dass sie es nur wegen seines Vaters gemacht hat. Er hat mir allerdings gesagt, dass er immer das Gefühl hatte, als würden alle ihn dafür verantwortlich machen. Als wäre es seine Schuld, weil er so ist, wie er ist.«
Als wäre es seine Schuld, dass seine Mutter sich umbringen wollte… Seine Mutter, die ihn jetzt so abgöttisch liebt, dass sie ihn am liebsten nie mehr gehen ließe.
Nach einer Minute Schweigen räuspert sich Simon und fügt hinzu: »Ich finde, er hätte es dir erzählen sollen. Von sich aus, meine ich, spätestens als du danach gefragt hast. Ich verstehe nicht, warum er nichts gesagt hat, Karoline wusste damals von Anfang an Bescheid.« Er schiebt sich mit einem gewissen abschließenden Effekt ein Plätzchen in den Mund und sieht mich erwartungsvoll an.
Na ja, was soll ich dazu sagen? DAS bringt mich endlich zum Weinen. Ich weine nicht laut und heftig wie sonst, sondern leise. Mir kullern schlicht Tränen aus den Augen, fast so, als hätte mein Körper es gar nicht bemerkt. Sogar meine Stimme bleibt normal, wird nur leise (was schon abnormal genug für mich ist), als Simon um den Tisch herumkommt, einen Arm um mich legt und mir mit der anderen Hand über die Wange streicht.
»Schhhhschhh, hey, alles in Ordnung. Das ist über zwanzig Jahre her.« Dann lacht er glucksend und sagt: »So was sagen sonst nur Opas, oder?«
»Was?«
»Sachen wie: Das ist über zwanzig Jahre her. Ich komme mir total alt vor!«
Er versucht mich aufzumuntern. Nett von ihm.
»Bist du ja auch«, quäle ich zusammen mit einem Lächeln heraus.
Er nimmt meinen Kopf in beide Hände– huch, was wird das?– und streicht mit den Daumen meine Wangen trocken. Dann drückt er mich so fest an sich, dass ich vergesse zu weinen und ihm, als er mich loslässt, völlig planlos ins Gesicht starre.
»Sag ihm bitte nicht, dass du es weißt. Und weine nicht vor ihm deshalb. Er hasst nichts mehr als…«
»…Mitleid. Ich weiß.«
»Genau. Außerdem würde er mich umbringen, weil ich nicht den Mund halten konnte.«
Simon steckt die Hände in die Hosentaschen, sein Blick schweift durch den Raum, dann sieht er auf den Boden und fragt: »Wollen wir auf den Schreck was trinken gehen?«
Schreck? Welcher Schreck? Meint er, weil ich soeben erfahren habe, dass das Leben meines Freundes ein noch viel größerer Scherbenhaufen ist, als ich je geahnt hätte? Ja, das muss er wohl meinen. Das Wort Schreck stellt in meinen Augen allerdings eine anmaßende Untertreibung dar.
Ich gucke erst Simon an und dann an mir herunter. »Sehe ich aus, als könnte ich jetzt was trinken gehen?«, grummele ich.
Simon lacht. »Mhm, okay, ich würde dir vorher ein paar Minuten im Bad geben.«
»Sei mir nicht böse, aber es ist irgendwie ein Scheißtag heute. Ich gehe am besten früh schlafen und… und so.«
Simon versteht leider nicht, dass ich ihn loswerden möchte. Er bleibt noch eine Dreiviertelstunde, bevor er überzeugt ist, dass ich absolut nirgends hingehen will, egal wie viele Cocktails er mir zu spendieren verspricht.
Später am Abend, es ist nach
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