Pinguinwetter: Roman (German Edition)
und elf Tage her.«
Ich sah Melitta an und war mir nicht sicher, ob sie glasige Augen hatte, weil es schon spät am Abend und sie müde war, oder …
»Das tut mir leid«, antwortete ich, »aber bei mir ist das doch was ganz anderes.«
»Ist es nicht, Lotte. Es geht darum, über seinen Schatten zu springen, sich zu entschuldigen, zu seinen Gefühlen zu stehen – und zu sich selbst. Das ist mit das Schwerste im Leben, zumindest für jemanden wie dich.« Nach einer kurzen Pause schob sie zwinkernd hinterher: »Und mich.«
Ich nahm noch einen Schluck aus der Flasche und lehnte dann meinen Kopf an Melittas Schulter.
Es klang so leicht – über meinen Schatten springen, Eric die Wahrheit erzählen, meine Gefühle zeigen und vor allem zu mir selbst stehen. Aber wenn ich doch noch gar nicht wusste, wer ich eigentlich war …?
Bis vor wenigen Wochen war ich noch die taffe, aufstrebende Lektorin gewesen, mit Aussicht auf die Position der Cheflektorin, die ich mir schon immer gewünscht hatte. Dann war ich die traurige Arbeitslose gewesen, die sich zu Hause vergraben und ihre Sorgen in Alkohol ertränkt hatte, um dann die hippe Alleinerziehende mit Kind zu geben, die alles im Griff hatte und über den Dingen stand. Doch jetzt hatte ich das Gefühl, dass ich keine dieser Personen war. Aber wer war ich dann? Und vor allem – wie sollte ich das herausfinden?
Müde schloss ich die Augen und dachte nur noch einen letzten Gedanken: Heute würde ich dieses Rätsel nicht mehr lösen. Vielleicht auch nicht morgen. Aber irgendwann. Und ich hoffte, dass es nicht zu lange dauern würde.
Der Abschied von Oma Melitta am letzten Tag war wie immer.
»Und dass du mir bloß nicht schwanger wirst, Lotte!«, ermahnte sie mich erneut, während sie mich beinahe erdrückte. »Vertragen hin oder her, aber denk an die Häuser, die du bauen könntest …«
»Ja, Oma, ich denke an die Häuser«, beruhigte ich Melitta, die jetzt mit wedelndem Zeigefinger vor mir stand. »So schnell bekomme ich schon keine Kinder, so ganz ohne Mann.«
»Ach«, seufzte sie, »das geht manchmal schneller, als man denkt.«
Als ich winkend in Gerd Lämmles Taxi stieg, rief sie mir noch hinterher: »Und lass dir das noch mal durch den Kopf gehen mit den Büchern! Der Blumenladen braucht dringend jemanden, der sich mit Büchern auskennt!«
Die Rückfahrt verlief zu meiner großen Freude ohne weitere Vorkommnisse, ein Justin-Marvin war weit und breit nicht zu sehen, und ich genoss die Ruhe im Abteil.
Erst ganz kurz vor Schluss stieg ein älterer, glatzköpfiger, untersetzter Mann ein, der sich mit hochrotem Kopf schnaufend direkt neben mich wuchtete. Ich hatte auf unzähligen Bahnfahrten – wie auch heute – mein Ich-bin-nicht-an-Gesprächen-interessiert-und-schon-gar-nicht-mit-dir-Gesicht aufgesetzt.
Das schien das rote Doppelkinngesicht aber nicht zu stören, denn nachdem er gierig eine Tupperdose mit Wurstbroten ausgepackt hatte, bot er mir grinsend eines an. »Sicher Hunger, die junge Frau, wa?« Er hielt mir ein Schwarzbrot mit einem übel nach Knoblauch riechenden Belag unter die Nase.
Er selbst hatte sich ein Leberwurstbrot rausgelegt.
»Nein, danke«, antwortete ich und sah wieder aus dem Fenster.
»Ach, kommen Se schon!«
»Nein danke!«
»Na los! Ich seh doch, dat Se wollen!«
Für einen kurzen Moment wünschte ich mir fast den renitenten Justin-Marvin und seine schmerzfreie Mutter zurück.
»Nein. Danke!«
»Diät können Se auch später noch machen, Dickerchen!« Ein lautes Grunzen, das einem Lachen nur im entferntesten Sinne ähnlich war, folgte. Mit der leberwurstfreien Hand klopfte er sich auf seinen fetten Oberschenkel.
Was soll das denn jetzt heißen? Was bildet sich dieser fette Schweinskopf hier eigentlich ein?
Mein Blick fiel auf seinen Ehering, der das rosafarbene Fleisch seines Fingers rechts und links um den Ring derart hervorquetschen ließ, dass ich annehmen musste, der Ring sei nicht bloß drei Nummern zu klein, sondern hätte nie wirklich gepasst. Ob er ihn je wieder abnehmen kann?
»Na kommen Se!«, wiederholte er und legte das ausgepackte Wurstbrot beinahe auf mein Knie.
»Jetzt hören Sie mir mal zu, Sie unwirsches Subjekt«, holte ich zu meiner eigenen Verwunderung aus. »Ich will Ihr ekliges Brot nicht, und zwar nicht, weil ich eine Diät nötig hätte. Ich bin gut so, wie ich bin. Da gibt’s nichts zu ändern. Und wenn Sie unbedingt wissen wollen, warum ich weder mit Ihnen sprechen noch etwas essen will, dann
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