Pitch Black
McPhersons Zeltplatz. Der Anblick des verlassenen Lagers ließ ihn regelrecht frösteln. Die Klappen der Zweimannzelte standen offen, die Schlafsäcke waren vom Regen völlig durchweicht. Auf einem Stein neben der Asche eines Lagerfeuers fand sich ein großer Topf voll Wasser. Ein beständiger Strom von Ameisen marschierte in einer offenen Tüte Marshmallows aus und ein. Ein unachtsamer Fuß hatte eine Schachtel Vollkornkekse zertrampelt, und die Kekse waren aus der aufgerissenen Verpackung gebröselt, ehe der Regen alles in eine graubraune schwammige Pampe verwandelt hatte.
Wie Ethan gesagt hatte, konnte man das Rauschen des Wasserfalls in der Ferne hören.
Sieben Minuten später stand er vor Steve McPhersons Leichnam.
Er lag in der Nähe eines kleinen, flachen Tümpels am Fuß des Wasserfalls, gerade weit genug entfernt, dass ihn der Sprühregen nicht mehr erreichte. Die Jungs hatten eine Jacke zusammengelegt und sie unter McPhersons Kopf geschoben; je eine weitere hatten sie über seiner Brust und seinen Beinen ausgebreitet. Ursprünglich hatten sie um die Wunde in seinem Kopf wohl ein T-Shirt gewickelt. Der Leichenbeschauer hatte die behelfsmäßige Bandage mittlerweile entfernt. Jetzt lag sie als blutiger Klumpen auf dem Boden.
McPherson war ein erfahrener Kletterer und Bergwanderer gewesen, wahrscheinlich der beste weit und breit. Er hatte nicht nur die Appalachen bezwungen, sondern auch die meisten Gipfel des pazifischen Nordwestens bestiegen. Natürlich konnten auch die besten Bergsteiger verunglücken. Doch die Vorstellung, Steve sei allein, ohne die Jungs, unterwegs gewesen, kam ihm unlogisch vor. Der ganze Sinn und Zweck der Bergtour war doch gewesen, den Jugendlichen Respekt vor der Natur und dem Land beizubringen und ihnen einige Fähigkeiten zum Überleben in der Wildnis zu vermitteln. Warum hätte er also allein losziehen sollen?
Gabe ging zu Dr. Zinn, die neben ihrem großen Rucksack kniete und gerade dabei war, ihre Instrumente sorgfältig wieder einzupacken. Ihre Wanderstiefel und Cargohose starrten vor Dreck. Ihr sportlicher Lebensstil ließ sie zehn Jahre jünger erscheinen als die fünfundfünfzig, die sie tatsächlich war. Er hatte sie, schon lange bevor sie zur Leichenbeschauerin des County ernannt worden war, kennengelernt. Damals hatte er ihr als neuer Deputy die Nachricht überbringen müssen, dass ihr vierzehnjähriger Sohn Jimmy versucht hatte, mit seinem Geländerad den Bear Creek zu überspringen, und auf der Unfallstation gelandet war. Der Ärger, den sich der Junge eingehandelt hatte, wurde noch verschlimmert durch den Umstand, dass er den Versuch ohne Erlaubnis auf Privatbesitz unternommen hatte. Es war Gabes erster Besuch dieser Art gewesen, und es war schlimmer gewesen, als er sich das vorgestellt hatte.
Doch Dottie Zinn war trotz der schlimmen Situation ruhig geblieben und hatte ihm dadurch seine Aufgabe erleichtert– seitjenem Tag empfand Gabe großen Respekt vor der Medizinerin.
Jimmy war schließlich wieder genesen, und Dottie und Gabe waren Freunde geworden.
Sie stand auf und nickte ihm zu. »Gabe.« Ihr Blick senkte sich auf die Leiche. »Sieht recht eindeutig aus: Schädeltrauma. Natürlich muss das die Autopsie erst noch bestätigen. Seine Hände habe ich mit Tüten geschützt; man weiß ja nie.«
»Kannst du den ungefähren Todeszeitpunkt angeben?«
»Anhand der Leichenstarre und der Leichenflecken würde ich sagen: zwischen sechs Uhr gestern Abend und sechs heute Morgen. Aber der Pathologe kann das wahrscheinlich weiter eingrenzen.«
Er sah sich die nähere Umgebung an und hielt nach einer möglichen Erklärung für McPhersons Sturz Ausschau.
Der Untergrund war eine Mischung aus Erde und Geröll, Stein- und Felsbrocken unterschiedlicher Größe lagen verstreut umher. Dicht bewachsene Felsnasen grenzten auf beiden Seiten den Wasserfall ein. Junge Schösslinge, Bergrhododendren und Farne schienen direkt aus dem Stein zu sprießen. Unterhalb des Wasserfalls waren Steinhaufen zu sehen, die das rauschende Wasser und die Vegetation im Lauf der Jahre aus der Steilwand gerissen und verstreut hatten.
Die freigelegten Schichten dunklen Gesteins seitlich der herabfallenden Wassermassen waren an vielen Stellen instabil. Steve wäre nie und nimmer hier hochgeklettert. Dennoch zeigte Gabe nach oben und fragte: »Hältst du es für möglich, dass er von da runtergefallen ist?«
Sie schüttete den Kopf. »Das würde ich stark bezweifeln. Dafür liegt die Leiche zu weit weg.
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