Plan D
Demokratisierung und Stabilisierung der DDR.«
»Was heißt das konkret?«
Marie sah Wegener in die Augen. »Honecker ist nicht freiwillig in Rente gegangen, 1989.«
»Was soll das heißen?«
»Es war die Idee meines Vaters. Sie haben die Sau vom Hof gejagt. So drückte er es aus.«
»Krenz hat geputscht?!« Brendels Stimme überschlug sich fast.
»Mein Vater hat geputscht«, sagte Marie kühl. »Ohne ihn hätte es die Wiederbelebung nie gegeben.«
Möwen schrien irgendwo weit über ihnen, waren nicht zu sehen und plötzlich doch da, segelten in Richtung Brücke, wurden ein paar Meter vom Wind abgetrieben und schafften es gerade noch auf das weiße Geländer, reihten sich auf, eine neben der anderen.
Maries Blick war den Möwen gefolgt und kehrte zurück. »Er hat seit den frühen Achtzigern an seinen Plänen für den Umsturz gearbeitet. Informationen gesammelt, Schwachstellen gesucht. Gewartet, bis er fast das ganze Politbüro in der Hand hatte. Als es so weit war, haben sie es durchgezogen. Es war verfassungswidrig, aber es war richtig. Es ging um den letzten Versuch, dieses Land zu demokratisieren. Mein Vater wollte, dass der Sozialismus lebt und nicht vor die Hunde geht. Krenz war seine Marionette. Eine Scheißmarionette, wenn Sie mich fragen.«
Brendels Gesicht hatte für einen Moment alle Souveränität verloren. »Egon Krenz ist nie von der Volkskammer zum Staatsratsvorsitzenden gewählt worden?«
»Nein. Krenz ist seit mehr als zwei Jahrzehnten illegitim an der Macht.« Maries Hände spielten wieder mit dem Wasser. »Erpressung, Drohungen, Druck, so ist es gelaufen, alles hinter den Kulissen. Glauben Sie, diesen grinsenden Vollversager hätte wer gewählt? Ich hab schon länger vermutet, dass mein Vater damit an die Öffentlichkeit wollte. An die westliche Öffentlichkeit.«
»Warum erst 2011? Nach zweiundzwanzig Jahren?«
»Das liegt doch auf der Hand. Er hat auf den perfekten Zeitpunkt gewartet, und dieser Zeitpunkt ist jetzt. Krenz angeschlagen, die DDR unter enormem Druck, die Konsultationen unmittelbar vor der Tür. Nie war die internationale Aufmerksamkeit größer. Wenn Achtung jetzt stolpert, macht Lafontaine Druck, bis sie Achtung schassen. Lafontaine ist nicht auf Krenz angewiesen, er braucht nur billiges Gas.«
»Und warum hat Ihr Vater dann bitteschön in Wandlitz als Gärtner gearbeitet? So viele Jahre?«
»Ich schätze, Sie denken da in die falsche Richtung. Er hat einfach gerne gegärtnert. Immer schon. Und er hat sich vermutlich einen Spaß daraus gemacht, das mitten in Wandlitz zu tun. Bei den Leuten, die seine politischen und strategischen Fähigkeiten nicht wollten. Zumindest um seine gärtnerischen Fähigkeiten sind sie also nicht drumherum gekommen, die Bonzen. Das passt zu meinem Vater.«
»Hat Ihr Vater Ihnen konkret gesagt, dass er mit diesen Informationen an die westliche Presse will?«, fragte Wegener.
»Er hat gesagt, für den Bonzenboss wäre die Party bald vorbei.«
»Wann hat er das gesagt?«
»Immer wieder. Zuletzt vor zwei Wochen. Voilà, da haben Sie Ihr Motiv.« Marie zog den Umhängeriemen der Neoprentasche fest. »Das größte Geheimnis aller dreckigen Geheimnisse dieses Landes. Von mir haben Sie es nicht. Besorgen Sie eine glaubwürdige Quelle oder noch besser, behalten Sie es für sich.«
»Danke«, sagte Wegener.
»Ein Zeichen meines Vertrauens.« Marie sah ihm in die Augen. »Das mit den Schuhen haben Sie ja hoffentlich selbst gemerkt, oder?«
»Was meinen Sie?«
»Ich meine, dass mein Vater nicht in seinen eigenen Schuhen gestorben ist.«
»Was soll das heißen«, fragte Brendel wie betäubt, »er ist nicht in seinen Schuhen gestorben?«
»Genau das, was ich sage. Haben Sie den neuen SPIEGEL?«
»Ja, natürlich.«
»Das Foto. Die Nahaufnahme der Schuhe mit den zusammengebundenen Schnürsenkeln. Mein Vater hätte niemals Schuhe mit Schnürsenkeln getragen. Schon gar nicht solche ausgelatschten Dinger. Er trug ausschließlich Slipper aus Pferdeleder. Werner Blühdorn hat sie ihm immer besorgt. Erzählen Sie mir nicht, dass Sie eine Leiche obduzieren und die Schuhe vergessen.«
Brendel schloss die Augen.
Marie nickte Wegener zu. »Das ist die DDR: Sogar Westbullen werden bei uns blind wie Maulwürfe. Den Schlüssel für die Handschellen und Ihre Ausweise finden Sie am hinteren Brückenanleger.« Dann drehte sie sich um und warf sich ins Wasser, verschwand, als wolle sie nie wieder auftauchen, tauchte doch wieder auf, ging in elegantes Kraulen
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