Plan D
Motiv nennen soll, das Beste für mein Land war der kleinste und größte gemeinsame Nenner, eine Fünfwortbibel, die immer richtig und immer bedeutsam klang, mit der man jeden Kreuzzug rechtfertigen konnte. Ein Satz, der auf alle Fahnen passte.
Wegener sah die dunklen Straßenzüge vorbeiziehen, die hohen Steinberge der Einschüchterungsarchitektur, die strahlenden Nazilüster, sah den funkelnden Mercedesstern auf der Motorhaube, raste durch die Hauptstadt des Dritten Reichs direkt auf die Kuppelhalle von Germania zu, verstand in dieser Sekunde glasklarer als jemals zuvor, dass er in einer Diktatur gelebt hatte und lebte und eines Tages umkommen würde. Wie knapp war dieser Staat an seinen historischen Wendepunkten vorbeigeschrammt? Wie würde er aussehen, wenn ein paar Kleinigkeiten anders gelaufen wären? Wer wäre er selbst, wenn die Welt in der Vergangenheit irgendwo eine Abzweigung genommen hätte, statt immer nur ziellos geradeaus zu stolpern?
»Wir werden verfolgt«, sagte Brendel.
Von den Inkonsequenten, den Egoisten, den Opportunisten, und vielleicht gehöre ich selbst dazu, bin mein eigener Jäger, dachte Wegener und drehte sich um, zwanzig, dreißig leuchtende Doppelscheinwerferpaare stierten ihn an.
»Ein roter Phobos, ein weißer Universal.« Brendel bog auf die Greifswalder Straße ab. Mehrere Blinker sprangen an, drei Wagen, vier Wagen blieben hinter ihnen. Die Farben waren nicht zu erkennen.
»Wie geht’s weiter?«, fragte Frankenstein.
»Erst mal weg mit ihm«, sagte Wegener, »wenn wir ihn kriegen.« »Treffpunkt, falls wir uns trennen müssen?«
»Schlag was vor.«
»Wenn wir ihn nicht kriegen, ›Molotow‹.« Frankenstein ging sich mit der Zunge über die Lippen. »Kennen Sie das, Herr Brendel?«
Brendel schüttelte den Kopf.
»Das Beste, was Ostberlin zu bieten hat. In jeder Hinsicht.«
Brendel reagierte nicht, starrte angestrengt auf die Straße, sein Mund ein verbissener Strich.
Schweigend glitten sie durch den knatternden Berufsverkehr, in dem man keine Verfolger abschütteln konnte, alle fünf Sekunden Brendels Augen im Rückspiegel, alle dreißig Sekunden ein Blick zur Uhr.
Irgendwann hauchte die freundliche Frauenstimme In zweihundert Metern haben Sie Ihr Ziel erreicht , machte eine kleine Pause, dann überglücklich: Das Ziel liegt rechts !
Die Digitaluhr neben der Tachoscheibe sprang auf 18:55
Frankenstein plättete mit beiden Händen seine Frisur. »Was machen wir, falls das die Sicherheit ist, hinter uns?«
»Das weiß ich auch nicht.« Wegener betrachtetet die vorbeiziehende, schwarze Baumkronenmasse, aus der erleuchtete Plattenbauten herausragten, hohe Laternenbögen, die alle hundert Meter gelbliche Lichtpfützen auf den Asphalt gossen, dazwischen undurchdringliche Büsche, in denen sich Fußballmannschaften verstecken konnten, verwaiste Bürgersteige, dahintreibender Verkehr.
Brendel wurde langsamer.
Wegener spähte durch die Heckscheibe. Keine Verfolger zu sehen.
Rechts begann das weite, betonierte Halbrund, in dessen Mitte sich der meterhohe Bronzebrocken breit machte: Thälmann, der entschlossen in den Nachthimmel starrte, in dem ihn die Kommunisten seit mehr als einem halben Jahrhundert vermuteten. Aus seiner rechten Schulter wuchs die geballte Kämpferfaust, hinter seinem Rücken wehte schwerer Fahnenstoff wie ein gegossener Flügel nach oben weg. Der Platz rings um das Denkmal war leer.
»Sie haben irgendwo hinter uns gehalten.« Brendel schaltete Motor und Wagenbeleuchtung aus, der Mercedes rollte noch ein paar Meter in die Dunkelheit zwischen zwei Laternen, blieb stehen.
18:57
Wegener merkte, dass sein Minsk vibrierte, fummelte es aus der Hosentasche , Sie haben eine TNT von Karolina Enders erhalten , und da war er wieder, der kleine, wohldosierte Adrenalinschub, den man nicht abstellen konnte, pure Energieverschwendung für lieblose Textköttel, garantierte Enttäuschungsminiaturen, deren einziger Überraschungseffekt in der Frage lag, mit welcher Wortkombination einem diesmal von hinten in die Eier getreten wurde.
Es gibt zurzeit niemanden für mich.
Doch, natürlich gibt es einen, dachte Wegener, aber den hast du ins Gefühlsexil gebombt, um ihn nicht mehr lieben zu müssen, weil du den Gedanken nicht aushalten konntest, dass du ihn immer weiter lieben würdest, deshalb hast du nicht gefühlt sondern beschlossen , dass du ihn nicht mehr liebst, so nüchtern wie du beschließt, deinen unfähigen sibirischen Gazprom-Praktikanten einen Monat
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