Plan D
und die Brigade hatten nichts übrig gelassen, keine Wünsche, kein Interesse, nur hilflosen Hass, der schon bald zur hilflosen Leere verblassen würde. Diese Leere konnte der Anfang vom Ende des Wollens sein. Der Anfang vom Ende des Mangels.
»Noch genau eine Stunde.« Frankenstein hatte seine Armbanduhr abgenommen und auf den Tisch gelegt, als würde sie dort eine angenehmere Zeit zeigen. »Dann haben wir 1 9 Uhr.«
Brendel griff nach der Speisekarte, schlug sie auf, blätterte.
»1 9 Uhr«, wiederholte Frankenstein leise.
Die Sonne war jetzt eine blendende Orange, die es nicht mehr lange machen würde, die gleich schlagartig ihre warme Farbe verlor und unterging, irgendwann ist Feierabend, Gabriel, alter Terroristenfreund, dachte Wegener und trank noch einen Schluck Kaffee, lauf nicht weg, spar deine Kräfte, sie kriegen dich doch.
»Wann hast du Toralf zum ersten Mal getroffen?« Brendel war plötzlich aufgewacht. »2000?«
»Ja, 2000. Im Frühjahr. Wie gesagt, auf dem Gendarmenmarkt und nicht hier.«
»Warum behauptet er dann, ihr hättet euch hier getroffen?«
»Das haben wir uns vorgestern schon erfolglos gefragt, Richard.«
Brendel hielt die aufgeschlagene Speisekarte hoch. »Das ›Jelzin‹ heißt erst seit 2004 ›Jelzin‹.«
»Und davor?«
»Steht hier nicht. Könnt ihr euch erinnern?«
»Keine Ahnung«, sagte Wegener.
Frankenstein schüttelte den Kopf.
Eine Minute lang sagte niemand etwas, dachten alle nach, grübelten stumm über ihren Tassen, bis Frankenstein sich wortlos hochwuchtete und in Richtung Tresen stapfte.
Wegener kramte sein Minsk aus der Tasche, auch wenn eine innere Stimme in ihm aufjaulte, ihn anbrüllte, öffnete eine Textnachricht an Karolina, die Stimme überschlug sich, aber er wollte es von ihr hören und nicht hintenrum, sie selbst sollte es ihm sagen, das musste erlaubt sein, das beschleunigte nur das Abhaken, trotzdem kreischte es in ihm weiter, ein unabschaltbares Warnsystem für Gravierendes und Verhängnisvolles, vergeblich, seine Finger hatten es schon getickert und abgeschickt: Sag mir bitte die Wahrheit, gibt es einen anderen?, die uralte, peinliche, demütigende Frage, die man nicht schöner formulieren konnte, mit der jeder Ex-Liebhaber nachträglich zum schmächtigen Schuljungen schrumpfte, egal, wie groß und breit und mächtig er vorher einmal gewesen war.
Der Briefumschlag flatterte, Finale, dachte Wegener, du flatterst nie wieder, sonst knall ich dich ab.
Frankenstein winkte im Hintergrund, er und der kleine ›Jelzin‹-Vietnamese schleppten eine Holzleiter aus der Küche, trugen sie quer durch den vollgequalmten Raum, wurden für ein paar Sekunden zu zwei ungleichen Feuerwehrmännern, vom allgegenwärtigen Rauch verschummert, die Blicke der Kaffeetrinker, Biertrinker, Wodkatrinker folgten ihnen, dann waren sie durch die Tür.
Wegener stand auf, Brendel folgte, draußen hatte der Vietnamese die Leiter an die Fassade gestellt und hielt sie mit beiden Händen fest, Frankenstein war schon oben, knibbelte an dem angegammelten JELZIN-Schriftzug herum, ächzte, hatte ein Packende der Klebefolie erwischt und ratschte sie Stück für Stück vom Leuchtkasten.
Brendel schnappte sich das hängende Folienende und ratschte weiter, vorsichtig, um es nicht abreißen zu lassen.
Frankenstein kletterte die Leiter herunter.
Brendel ließ den abgezogenen Folienschwanz in der Luft hängen und ging ein paar Schritte rückwärts.
Zu dritt standen sie nebeneinander. Starrten den Leuchtkasten an. Die ursprüngliche Beschriftung war verblasst, fleckig, durchlöchert, aber trotzdem lesbar:
CAF E – RESTAURANT THÄLMANN’S
Der Vietnamese sah von einem zum anderen.
Auf der Karl-Marx-Allee knatterte Verkehrslärm, die rechte Neonröhre flackerte kurz, das MANN’S blinkte auf, dann leuchtete es wieder in blassem Hellrot.
»Wir haben ihn«, sagte Wegener.
»Wen hobta?«, fragte der Vietnamese in lupenreinem Sächsisch.
»Den Mann, der von hinten erschossen wurde.«
30
D er Mercedes bremste mit eingeschalteten Warnblinklichtern am Straßenrand, die Knöpfe der Türverriegelung fuhren hoch.
Frankenstein stieg vorne ein, Wegener hinten.
18:3 4 Uhr.
Brendel gab Gas.
Die Dämmerung war auf Berlin gesunken, ein halbtransparentes, graublaues Tuch ohne Nahtstellen, unter diesem Tuch kämpfen wir, dachte Wegener, alle unter einer Decke, Spielsüchtige und ehemalige Liebende, von denen letztlich jeder das Beste für mein Land sagt, wenn er am Ende aller Debatten sein
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