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Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)

Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition)

Titel: Planet America: Ein Ami erklärt sein Land (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric T. Hansen
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Haymarket. Während der Kundgebung passierte es dann: Jemand schmiss eine Bombe.
    Sie explodierte unter den Polizisten, verwundete einige und tötete den Beamten Mathias J. Degan.
    Die Polizei feuerte in die Menge. Eine wilde Straßenschlacht brach aus, die bis in die Nacht andauerte. Häuser wurden in Brand gesteckt. Die Straßen sahen aus wie in Kreuzberg am 1. Mai! Sieben Polizisten und vier Arbeiter verloren ihr Leben in den Kämpfen.
    Acht bekannte Anarchisten wurden verhaftet. Obwohl klar war, dass keiner von ihnen die Bombe geschmissen hatte – der Täter wurde übrigens nie gefunden –, stand fest, dass sie an der Organisation der Demo beteiligt waren, und das reichte schließlich auch. Sieben von ihnen wurden zum Tode verurteilt, vier tatsächlich gehängt. Und, wer hätte das gedacht, unter dem Galgen sangen sie noch die »Marseillaise«. Einer von ihnen, August Spies, schrie dabei angeblich in die Menge: »Die Zeit wird noch kommen, da unser Schweigen mächtiger sein wird als die Stimmen, die ihr heute erwürgt!«
    Ob er damit recht hatte, ist schwer zu sagen: Einerseits kennt heute fast keiner mehr seinen Namen, andererseits haben wir inzwischen immerhin die Fünf-Tage-Arbeitswoche und den Acht-Stunden-Arbeitstag …
    Hatte ich eigentlich das merkwürdige Detail erwähnt, dass von den acht verhafteten Anarchisten sechs Deutsche waren?
    Apropos Parallelgesellschaft mit überzogen utopischen Ansprüchen:
    Wenn eine Reisezeitschrift etwas über verrückte Amerikaner schreiben will, besucht sie einfach die Amish in Pennsylvania. Das sind diese religiösen Spinner, die so leben wie im 18. Jahrhundert: Sie fahren in Kutschen, bauen ihre Häuser selbst, ohne moderne Werkzeuge, leben ohne elektrisches Licht, ohne Kühlschrank, ohne Fernseher und tragen züchtige, einfarbige Kleidung, die keine Knöpfe haben darf, ganz zu schweigen von unvorteilhaften Strohhüten, lächerlichen Hauben und wilden Bärten.
    Die Amish sind immer für eine skurrile Geschichte gut: In einem schockierenden Fall wurden 10 Amish-Männer und zwei Amish-Frauen 2011 verhaftet und wegen Körperverletzung angeklagt. Strafrechtlich ging es um so genannte »Hassverbrechen« – Gewaltkriminalität aufgrund von ethnischem, sexuellem oder religiösem Hass, vergleichbar also mit Mord an Schwarzen durch den Ku-Klux-Klan. Die Delinquenten waren Angehörige einer kleinen Sekte innerhalb der Amish und hatten ehemalige Mitglieder der Splittergruppe überfallen, nachdem diese ausgestiegen waren. Und was waren nun die schrecklichen Gewalttaten, die sie den anderen antaten und weswegen sie im Kittchen landeten? Sie hatten den Abtrünnigen die Bärte abgeschnitten! Ich staune immer wieder, wozu die Bestie Mensch alles in der Lage ist …
    Hatte ich erwähnt, dass es die Deutschen waren, die uns die Amischen beschert haben?
    Im 17. Jahrhundert spalteten sich in Europa nämlich die Gemeinden der deutschen, schweizerischen und niederländischen Mennoniten aufgrund einer ungeheuer wichtigen Glaubensfrage auf: Sollte man mit ehemaligen Mitgliedern, die wegen irgendwelcher Übertretungen aus der Kirche ausgeschlossen worden waren, noch sprechen? Jakob Ammann war überzeugt: Nein. Sünder und Abtrünnige sollten wie Luft behandelt werden. Männer sollten nicht mal mehr mit Frau und Kind reden. Man nannte das Prinzip »Meidung«. Es ging um Disziplin im Glauben, aber auch darum, dem Ausgeschlossenen auf diese Weise klarzumachen, welche Folgen seine Übertretung hatte.
    Die Mennoniten wurden sich über diese Frage einfach nicht einig. Ammanns Anhänger, fortan »Amische« genannt, setzten sich schließlich nach Amerika ab, wo sie in aller Ruhe nach diesem Prinzip leben konnten, ohne dass irgendwelche Klugscheißer mit anderer Ansicht auf sie einredeten. Vor allem aus dem Elsass und der Pfalz machten sich viele auf, zuerst nach Pennsylvania und dann weiter in den Westen.
    Diejenigen, die nicht mitfuhren, wurden nach einer Weile wieder in die Mennonitenkirche eingegliedert. Wie das eben so ist mit Meinungsverschiedenheiten: Sie legen sich mit der Zeit. Heute gibt es keine Amischen mehr in Europa, aber fast eine Viertel Million von ihnen – über zahlreiche Gemeinden verstreut – in den Vereinigten Staaten. Ihre Nachbarn machen sich über sie lustig, aber sie scheinen weitgehend glücklich zu sein, soweit man das von außen beurteilen kann. Junge Leute dürfen sich so ab 16 entscheiden, ob sie unter den Amischen bleiben oder sich der modernen Welt anschließen

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