Plasma
Mike. Doch in diesem Punkt irrte er sich. Zwar enthielt die Luft bereits auf dem knapp 9000 Meter oder 29000 Fuß hohen Gipfel des Mount Everest kaum noch genügend Sauerstoff zum Überleben, aber die Gashülle des Planeten reichte, wie Ruth wusste, zweihundert Meilen über den Meeresspiegel und damit höher hinauf als der Orbit der Raumstation, auch wenn die Randschicht der Exosphäre in der Tat sehr dünn war.
Ruth musste sich auf ihre Augen und auf Newcombes Ausbildung verlassen. Leadville war die mächtigste Stadt – und damit das lohnenswerteste Ziel – auf dem Kontinent, und eine Massenvernichtungsbombe in dieser Höhe konnte ihr Licht durchaus so weit ausgesandt haben. Vielleicht war der Strahl abgeprallt. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Hitzesäule im Gefolge des Lichtblitzes weit über die Wolkenschicht hinausgeschossen und ihre Gewalt über Hunderte von Meilen spürbar gewesen war.
Würden die Ausläufer denn bis hierher reichen? Die Strahlung, hatte Cam gesagt, und Ruth spürte, wie sich das wilde Auf und Ab ihrer Gefühle erneut verlagerte. Trauer erfasste sie. Sie hatte während ihres kurzen Aufenthalts in Leadville nicht viele neue Freundschaften geschlossen, aber neben der Crew der ISS befanden sich praktisch alle ihre Bekannten in der Stadt: James Hollister, die Forscherkollegen, die Leute, die ihr Bestes gegeben hatten, um sie bei der Arbeit zu unterstützen. Vierhunderttausend Männer und Frauen. Höchstwahrscheinlich waren sie jetzt alle verdampft, und doch dachte sie mit gemischten Gefühlen an Gary LaSalle und seine Nano-Waffen, die er entwickelt hatte, um die brutalen, wahnsinnigen Pläne von Kendricks und dem Rat des Präsidenten zu unterstützen.
War es darum gegangen? Wer hatte die Bombe gezündet? Eine der Rebellengruppen? Eine ausländische Feindesmacht?
Ruth legte die gesunde Hand auf den Boden und fuhr mit den Fingern durch einen Stiefelabdruck, als könnte das Sohlenmuster wie eine Art Blindenschrift die richtige Antwort liefern.
»Es kann unmöglich Colorado gewesen sein«, sagte Mike.
»Hör mal, Kleiner, jemand hat soeben ein paar atomare Sprengköpfe gezündet!«, schrie Newcombe ihn an. »Und du ...«
Cam griff ein. »Sachte!«, sagte er. Er hatte eine Zeit lang geschwiegen. Ruth erlebte nicht zum ersten Mal, dass er sich ein wenig absonderte, um in aller Ruhe die Meinungen der anderen zu sondieren, ehe er seine Lösung des Problems anbot. »Das spielt jetzt keine Rolle.«
»Das spielt keine Rolle?«, rief Alex.
»Was immer auch geschehen ist, wir müssen jetzt entscheiden, was wir als Nächstes tun. Ich schlage vor, dass wir alle zusammen losziehen. Heute noch. Jetzt gleich.« Cam deutete nach Osten, in das Tal zu ihren Füßen. »Wir müssen runter von den Bergen und versuchen, so viele Menschen wie möglich zu erreichen.«
Einen Augenblick lang hörte man nur den Wind.
»Bevor weitere Bomben fallen«, setzte Cam hinzu.
»Yeah. Da hat er recht.« Newcombe warf einen Blick in die erstarrten Gesichter der Pfadfinder. Mike hielt immer noch schützend beide Fäuste vor die Augen, während Brandon eine Hand gegen die blutende Wange presste.
»Wir teilen uns auf«, fuhr Cam fort. Seine Stimme klang jetzt scharf. »In drei Gruppen.« Er deutete auf Ed und Alex. »Eine übernehmen Sie, eine der Junge und eine wir. Das erscheint mir am sinnvollsten.« Er hatte dem klaffenden Loch am Himmel den Rücken zugewandt und musterte die kleine Schar mit festem Blick. »Uns bleibt keine andere Wahl«, sagte er. »Los jetzt. Wir brechen auf.«
D Mac und Hiroki liefen mit Ed zum Camp zurück, um die restlichen Rucksäcke und Schlafsäcke zu holen, während Cam den Verband von seiner linken Hand löste. Er öffnete noch einmal den Schnitt, den er sich mit dem Messer zugefügt hatte, und fing das Blut in einer Blechtasse auf. Zu viel Blut.
»Nein«, Samantha sah ihren Bruder flehend an. »Bitte nicht!«
Brandon schüttelte den Kopf. »Wir können nicht hierbleiben, Sam. Das weißt du ganz genau.«
Alex trank rasch, ebenso wie Kevin, und nahm die Tasse wieder an sich, als er sah, dass Samantha sich weigerte, ihrem Beispiel zu folgen. »Er hat recht«, sagte Alex. »Nun mach schon! Er hat recht.«
»Bleib bei mir«, bat sie.
Der Untergrund vibrierte wieder leicht, und sie hörten, wie einer der Jungen oben am Berg etwas rief. Dann bäumte sich die Erde auf. Ruth, die immer noch am Boden kauerte, verlor das Gleichgewicht. Sie hatte das Gefühl, wie ein Ball auf- und
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