Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Etgar Keret
Vom Netzwerk:
Kreditabzahlungsraten nicht aufbringen konnte. »Schauen Sie mich an«, beendete Oschri seine traurige Geschichte stets mit einem scheiternden Versuch, seinen rechten Arm zu bewegen, »schauen Sie mich an, wie ich hier mit Ihnen in diesem Café sitze und Blut und Wasser schwitze, um Ihnen eine Police zu verkaufen. Hätte ich nur dreißig Schekel im Monat auf die Seite gelegt. Dreißig Schekel, was ist das schon? Eine Nachmittagsvorstellung, ohne Popcorn. Dreißig Schekel im Monat – und ich könnte jetzt im Bett liegen wie der King mit zweihunderttausend Schekel auf dem Konto. Ich hab mein Fett schon weg, aber Sie? Lernen Sie aus meinem Fehler, Motti. Unterschreiben Sie hier, und das war’s. Wer weiß, was in den nächsten fünf Minuten aus heiterem Himmel auf Sie herunterfällt.« Und dieser Motti oder Jigal, Micky oder Zadok, der ihm gegenübersaß, starrte ihn einen Moment an, nahm dann den Stift, den er ihm mit seiner gesunden Hand hinhielt, und unterschrieb. Jeder, ohne Ausnahme. Oschri verabschiedete sich immer mit einem Zwinkern von ihnen, denn mit einem gelähmten rechten Arm kann man keinem die Hand zum Abschied drücken, und ließ auf dem Weg nach draußen noch fallen, dass sie das Richtige getan hätten. So begann sich das lädierte Bankkonto von Oschri Siwan ohne allzu große Mühe rasch zu regenerieren, und innerhalb dreier Monate kauften er und seine Frau bereits eine neue Wohnung mit einer viel geringeren Kreditbelastung als der, die sie vor dem Unfall gehabt hatten. Und mit der ganzen Physiotherapie in der Poliklinik fing auch der Arm an besser zu werden. Obwohl Oschri bei Geschäftsterminen, wenn ihm die Kunden die Hand zum Händedruck hinhielten, weiterhin so tat, als könne er ihn überhaupt nicht bewegen.
»Da ist Blau und Gelb und Weiß und ein süßer, weicher Geschmack im Mund. Da ist etwas Hohes über mir. Etwas Gutes, und ich bin auf dem Weg dorthin. Auf dem Weg dorthin.«
    In der Nacht fuhr er fort, davon zu träumen. Nicht von dem Unfall, vom Koma. Es war seltsam, aber obwohl seitdem schon eine geraume Zeit vergangen war, konnte er sich immer noch bis in die kleinsten Einzelheiten an alles erinnern, was er in jenen sechs Wochen gefühlt hatte. Er erinnerte sich an Farben, einen Geschmack und kalte Luft, die ihm das Gesicht kühlte. Er erinnerte sich an die fehlende Erinnerung, an dieses Empfinden, dass er ohne Namen und ohne Geschichte existierte, nur im Augenblick. Sechs volle Wochen reine Gegenwart, wobei das Einzige, das er außer der Gegenwart empfand, so ein kleines Aufkeimen von Zukunft war, eine Art unbegründeter Optimismus, der dieses neue und eigenartige Existenzgefühl einhüllte. In diesen sechs Wochen wusste er nicht, wie er hieß oder dass er verheiratet und Vater einer Tochter war. Er wusste nicht, dass er einen Unfall gehabt hatte und dass er jetzt im Krankenhaus um sein Leben kämpfte. Er wusste rein gar nichts, außer dass er lebte. Und diese schlichte Tatsache erfüllte ihn mit ungeheurer Freude. Überhaupt, diese Erfahrung, in diesem Nichts zu denken und zu fühlen, war stärker als alles andere, das ihm jemals widerfahren war. Als wären alle Hintergrundgeräusche verschwunden und der einzige Klang, der überblieb, war echt und sauber und zum Weinen schön.
    Er redete darüber nicht mit seiner Frau und auch nicht mit irgendeinem anderen Menschen. Man sollte es eigentlich nicht derart genießen, dem Tod nahe zu sein. Das Koma sollte dir eigentlich keinen Spaß machen, wenn deine Frau und deine Tochter an deinem Bett schluchzen. Als man ihn also befragte, ob er sich an irgendetwas davon erinnere, sagte er, nein, er erinnere sich an nichts. Als seine Frau ihn fragte, ob er, als er im Koma war, sie und Meital zu ihm sprechen gehört habe, sagte er zu ihr, auch wenn er sich nicht erinnere, sie gehört zu haben, wisse er, dass ihn das gestärkt und ihm im Unterbewusstsein Kraft und Antrieb zu leben gegeben habe. Das sagte er zu ihr, aber es stimmte nicht, denn als er im Koma lag, hatte er schon manchmal Stimmen von außen gehört. So merkwürdige Stimmen, scharf und unklar zugleich, wie Geräusche, die man unter Wasser hört. Und er hatte das damals ganz und gar nicht gemocht. Diese Stimmen hatten für ihn bedrohlich geklungen, zeugten sie doch davon, dass es etwas jenseits der farbigen und wohligen Gegenwart gab, in der er existierte. Erst als er aufgewacht war, hatte er begriffen, dass diese Stimmen die ihren gewesen waren.

»Möget ihr kein Leid erfahren«
    Einen

Weitere Kostenlose Bücher