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Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition)

Titel: Plötzlich klopft es an der Tür: Stories (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Etgar Keret
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Besuch während der Trauerwoche des Jungen, der ihm auf den Kopf gesprungen war, konnte Oschri nicht machen, und auch zum Monatstrauertag konnte er nicht kommen. Er lag damals noch im Koma. Zum Jahrestag jedoch kam er dann. Auf dem Friedhof waren nur die Eltern, die Schwester und noch irgendein übergewichtiger Freund aus der Schulzeit. Sie wussten nicht, wer Oschri war, und die Mutter von dem, der gesprungen war, dachte, er sei der Boss ihres Sohnes, denn auch der hieß Oschri. Die Schwester und der Dicke dachten, er sei irgendein Bekannter der Eltern. Aber nachdem alle kleine Steinchen auf das Grab gelegt hatten und die Mutter ein wenig nachfragte, erklärte Oschri, er sei derjenige, auf dem Nathi, wie dieser Junge geheißen hatte, gelandet war, als er aus dem Fenster sprang. In dem Moment, in dem die Mutter das hörte, fing sie an sich zu entschuldigen, bat um Verzeihung und weinte pausenlos. Der Vater versuchte sie zu beruhigen und stierte Oschri gleichzeitig mit misstrauischen Blicken an. Nach fünf Minuten hysterischen Weinens der Mutter sagte der Vater förmlich zu Oschri, er bedaure alles, was ihm passiert sei, sehr und sei sicher, dass auch Nathi, wenn er noch lebte, es bedauern würde, dass es jetzt jedoch besser für alle sei, wenn Oschri ginge. Oschri stimmte ihm umgehend zu und fügte gleich noch hinzu, dass er jetzt schon fast wieder ganz in Ordnung sei, und dass es alles in allem gar nicht so schlimm gewesen war, sicher nichts im Vergleich zu dem, was die Eltern durchgemacht hatten. Der Vater schnitt ihn mitten im Satz ab und sagte: »Wollen Sie uns verklagen? Denn falls ja, vergeuden Sie Ihre Zeit. Siwa und ich haben keinen müden Groschen unterm Arsch, hören Sie? Nicht mal einen Groschen.« Dieser Satz veranlasste die Mutter, noch mehr zu weinen, und Oschri murmelte etwas davon, dass er an niemanden irgendwelche Forderungen habe, und entfernte sich. Am Friedhofsausgang, als er seine Kipa aus Pappe in den Holzkasten zurücklegte, holte ihn Nathis Schwester ein und entschuldigte sich für ihren Vater. Eigentlich entschuldigte sie sich nicht direkt, sondern sie sagte bloß, dass er ein Idiot sei und dass Nathi ihn immer gehasst habe. Dieser Vater, stellte sich heraus, war sich immer sicher, dass ihn alle bloß bescheißen wollten, und am Schluss passierte es dann wirklich, und sein Geschäftspartner war vor einigen Monaten mit dem Geld durchgebrannt.
    »Wenn Nathi das gesehen hätte, er wäre geplatzt vor Lachen«, sagte die Schwester und stellte sich vor. Sie hieß Ma’ajan, und Oschri nahm aus Gewohnheit ihre ausgestreckte Hand nicht entgegen. So oft schon hatte er so getan, als ob seine rechte Hand völlig gelähmt sei, dass er manchmal, sogar wenn er allein zu Hause war, sie zu benutzen vergaß. Worauf Ma’ajan den Händedruck mit vollkommener Ungezwungenheit gegen eine leichte Berührung an seiner Schulter austauschte – eine Berührung, die im Nachhinein beide ein bisschen verlegen machte. »Komisch, dass Sie hergekommen sind«, sagte sie, nachdem sie einen Moment geschwiegen hatten, »was haben Sie mit Nathi zu tun? Sie haben ihn doch gar nicht gekannt.«
    »Schade«, Oschri geriet durcheinander. Er wollte ihr sagen, dass es überhaupt nicht komisch war, dass er gekommen war. Dass es zwischen ihm und ihrem Bruder etwas Ungelöstes gab. Es waren so viele Menschen an jenem Tag dort in dem Café gewesen, und von all denen war Nathi ausgerechnet auf ihn gefallen. Und deswegen war er heute gekommen, um zu verstehen zu versuchen, warum. Aber noch bevor er dazu kam, das auszusprechen, ging ihm auf, dass sich das idiotisch anhören würde, also fragte er stattdessen, weshalb sich Nathi umgebracht hatte, so ein junger Mensch und das Ganze. Ma’ajan zuckte mit den Achseln. Anscheinend war er nicht der erste Mensch, der sie das fragte. Bevor sie sich verabschiedeten, gab er ihr seine Visitenkarte und sagte, wenn sie bei irgendwas Hilfe bräuchte, egal was, solle sie anrufen, worauf sie lächelte und sagte, danke, aber sie sei ein Mensch, der sehr gut allein zurechtkomme. Nachdem sie die Karte eine Sekunde betrachtet hatte, fügte sie hinzu:
    »Sie sind Versicherungsagent? Das ist aber echt komisch. Nathi hat Versicherungen immer gehasst, er hat gesagt, Versicherungen seien ein schlechtes Karma. Sie abzuschließen sei praktisch das Gegenteil davon, zu glauben, dass alles gut würde.« Oschri versuchte sich zu verteidigen und sagte, dass viele junge Leute so dachten, aber wenn man Kinder habe, sei das

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