Ploetzlich Mensch
Augen?
Es gab nur eins, was er tun konnte. Er musste diesen Zustand so schnell wie möglich wieder rückgängig machen. Aber dafür musste er erst einmal raus aus diesem Irrenhaus.
Entschlossen erhob er sich. Er würde eine Möglichkeit finden, zu seinem alten Ich zurückzukehren.
Er zog sich an und entfernte dann vorsichtig den Verband von se i nem Kopf. Zahlreiche Beulen wölbten sich auf seiner Kopfhaut. Sie schmerzten bei der kleinsten Berührung. Sein ohnehin schon dunkles Haar war an einigen Stellen blutverkrustet. Alles in allem bot er einen mehr als erbärmlichen Anblick. Einen Moment lang betrachtete er sein Spiegelbild, das ihm gleichzeitig fremd und doch vertraut erschien. War dieser Kerl mit dem kurzen braunen Haar wirklich er? Hatte er sich in den ganzen zweihundert Jahren so wenig verändert? Keine Falte, kein graues Haar, nicht ein einziges Zeichen dafür, dass der Zahn der Zeit an ihm genagt hätte. Noch immer das wohlgeformte, aristokratisch wirkende Gesicht, das durch die dunklen Brauen dennoch eine gewisse Verwegenheit ausstrahlte. Für einen alten Mann sah er immer noch verdammt gut aus. Ein Grund mehr, so schnell wie möglich wieder ein Vampir zu werden.
Er wandte sich von den Überresten des Spiegels ab, öffnete vorsic h tig die Zimmertür und trat hinaus auf den Flur.
Es herrschte nicht allzu viel Betrieb auf dem Gang zwischen den vi e len Türen. Ein Wolfsjunge, der einen Gipsverband um seine rechte Hinterpfote trug, humpelte auf Krücken gerade an seiner Zimmertür vorbei. Ansonsten war weit und breit niemand zu sehen.
„ He, Kleiner! Wo geht’s hier nach draußen?“, fragte er den Jungen.
„ Immer geradeaus, den Gang hinunter und dann rechts durch die Glastür zu den Fahrstühlen, Mister“, gab dieser bereitwillig Auskunft. „Aber passen Sie auf. Schwester Lissy sitzt vorn im Schwesternzimmer und hält Wache.“
„ Danke, Kleiner.“
Es war nicht schwer, ungehindert am Schwesternzimmer vorbeiz u kommen. Er musste lediglich seine Schritte ein wenig beschleunigen.
Bevor die Zombiefrau auch nur zu einem Protest ansetzen konnte, war er bereits durch die Glastür gegangen und verschwand hastig in einer der Fahrstuhlkabinen, die zum Glück gerade auf diesem Stoc k werk hielt.
Den drei Elfen, die mit ihm die kleine Kabine teilen mussten, war die Erleichterung deutlich anzusehen, als sich die Türen im nächsten Stockwerk wieder öffneten und frische Luft in den stickigen Raum drang. Fluchtartig verließen sie den Fahrstuhl, angeekelt von ihm und seiner noch immer intensiv nach Knoblauch stinkenden Kleidung.
Es war sicher sinnvoll, sich so bald wie möglich frisch einzukleiden, bevor ihm noch jemand die unangenehme Frage stellen konnte, wie es denn dazu gekommen war, dass ihn jemand mit Knoblauchspray att a ckiert hatte.
Er gelangte ungehindert ins Erdgeschoss und hielt zielstrebig auf die Glastür zu, die ins Freie führte. Doch je näher er dem ins Sonnenlicht getauchten Vorplatz kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Es war helllichter Tag und die Sonne strahlte grell von einem blauen, wo l kenlosen Himmel herab. Einen Moment war er versucht, seine Flucht aufzugeben und wieder in den sicheren Schatten des Gebäudes z u rückzuweichen. Wenn dies alles doch nur ein Trick war, dann würde der Schritt hinaus in die Sonne extrem große Schmerzen für ihn bede u ten. Andererseits konnten diese Schmerzen auch nicht viel schlimmer sein, als alles andere, was er heute schon ertragen hatte. Sein Blick glitt hinab zu seinen Händen. Noch immer quoll Blut aus den Wunden an seinen Fingerknöcheln. Noch immer war seine Haut rosig und warm. Er atmete tief ein. Dann setzte er einen Fuß hinaus in das Sonnenlicht.
Es dauerte seine Zeit, bis die Anspannung nachließ und er sicher war, dass ihm nichts passierte. Es war ungewöhnlich, die warmen Strahlen auf der Haut zu spüren, ohne dabei Schmerzen zu empfinden. Für e i nen kleinen Moment ertappte er sich dabei, wie so etwas wie Glücksg e fühle in ihm aufstiegen.
Der menschliche Körper war wirklich seltsam.
Er wischte diese flüchtigen Emotionen beiseite und machte sich auf den Weg zur nächsten U-Bahn-Station.
Das menschliche Dasein mochte gewisse Vorteile mit sich bringen, doch es war nichts gegen die Kraft und Macht eines Vampirs. Er hatte nicht vor, länger als nötig in diesem jämmerlichen, zerbrechlichen Körper zu bleiben.
*
Gedankenverloren betrachtete Clara ihr Spiegelbild im Schaufenster einer Bäckerei. Das
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