Ploetzlich Mensch
blonde Mädchen, das ihren Blick erwiderte, bot einen erbärmlichen Anblick. Ihr Haar war zerzaust und ihr weißes Kleid stellenweise zerrissen und übersät von braunen und grünen Fl e cken. Sie hätte eine der heruntergekommenen Bettlerinnen sein kö n nen, die jeden Tag vor dem Tempel saßen und die Pilger um eine milde Gabe anflehten.
Sie war am Ende ihrer Kräfte, müde, hungrig und ihr war kalt.
Die Auslagen der Bäckerei waren gefüllt mit den leckersten Kuchen, die sie je gesehen hatte, und der Geruch von frisch gebackenem Brot lag in der warmen Luft, die ihr aus dem Inneren des Ladens entgege n wehte. Sie hätte alles gegeben für ein einziges Brötchen oder ein winz i ges Stück Kuchen, um ihren Hunger zu stillen. Die Stadt war voll von all den wunderbaren, schönen Dingen, von denen sie immer nur hatte träumen können. Doch ohne Geld hätte sie genauso gut in einer and e ren Dimension weilen können. Alles war so nah und doch so une r reichbar fern für sie.
Sie hatte ihr Gefängnis verlassen und war doch unfähig an dem L e ben teilzuhaben, das alle anderen hier ohne Probleme führen konnten.
Sie war allein. Allein in dieser großen Stadt, ohne die Möglichkeit in ihr Zuhause zurückzukehren. Ohne Geld, ohne Essen, ohne ein Dach über dem Kopf. Und alles nur wegen dieses verdammten Vampirs.
Oh, sie hoffte, dass er leiden würde. Schlimme, unerträgliche Schmerzen. Höllenqualen, ja! Höllenqualen für das, was er ihr angetan hatte. Sie spürte, wie erneut das Feuer in ihrer Brust aufloderte. Heiß und wütend durchfloss es ihren Körper und schien ihrem Geist die Kontrolle entreißen zu wollen. Sie drückte ihre Stirn gegen das kalte Glas der Schaufensterscheibe und versuchte tief durchzuatmen.
Irgendetwas hatte sich verändert. Die Glut war noch nie so intensiv gewesen. Sie war schon immer da, aber sie hatte noch nie so stark g e brannt. Es schien fast, als wäre die dünne Wand, die sie bisher vone i nander getrennt hatte, plötzlich durchlässig geworden.
Was war das? War da nicht gerade eine Bewegung gewesen? Hatte sie nicht einen Schatten am Boden gesehen? Nervös glitt ihr Blick über das Kopfsteinpflaster. Sie hoffte inständig, dass sie noch nicht ihre Spur aufgenommen hatten. Oder waren sie etwa bereits hinter ihr her?
Sie konnte nicht länger hier bleiben. Sie musste weg von hier. I r gendwohin, wo sie sie nicht finden konnten.
3
Deans Ziel war einer der hässlichen Beton-Wohnblöcke im Süden der Stadt. Wer hier lebte, hatte nicht einmal die unterste Sprosse der E r folgsleiter erklommen und gab sich mit dem zufrieden, was von oben für ihn abfiel.
Eigentlich keine übliche Wohngegend für einen Vampir. Seine Ar t genossen gehörten eher zur gehobenen Klasse der Gesellschaft, was unter anderem damit zusammenhing, dass sie viel länger als alle and e ren Lebewesen Zeit hatten, ein Vermögen anzuhäufen. Doch auch „junge“ Vampire schafften es meist innerhalb kurzer Zeit, zu ansehnl i chem Reichtum zu gelangen. Vermutlich war es die raubtierhafte Natur des Vampirs in Verbindung mit einem erheblichen Mangel an tieferen Emotionen, die ihnen im Geschäftsleben einen entscheidenden Vorteil verschafften.
Der Vampir, der sich nun mit schläfriger Stimme an der Sprechanl a ge der Haustür meldete, zeigte allerdings nichts von diesem Ehrgeiz. Dean hatte sich schon mehr als einmal die Frage gestellt, warum j e mand einen Wurm wie Jeremy zum Vampir gemacht hatte. An seinem Leben hatte sich dadurch vermutlich nicht viel geändert. Er saß den ganzen Tag in seinem schlecht gelüfteten Kämmerchen vor dem Co m puter, der offensichtlich seine einzige Verbindung zur Außenwelt da r stellte, und stopfte ungesundes und fettiges Zeug in sich hinein.
Dean hatte keine allzu hohe Meinung von Jeremy. Gelinde gesagt hielt er ihn für eine Schande seiner Art. Doch er konnte gelegentlich nützlich sein. Für einen Vampir war er recht harmlos und obendrein noch leicht beeinflussbar. Genau das, was er jetzt brauchte.
„ Wo kommst’n du her? Es is’ mitten am Tag“, empfing ihn Jeremy mit verschlafenem Blick an der Tür seines schäbigen Kellerapartments. „Alter! Du siehst ja furchtbar aus. Bist du unter ’ne Dampfwalze ger a ten?“
„ So was Ä hnliches“, murmelte Dean und zwängte sich an dem d i cken, blassen Kerl mit der wirren Frisur vorbei in die Wohnung.
Die Luft hier unten stand wie immer und war getränkt vom Geruch von Schweiß, Glutamat und halb vergammelten Pizzaresten. Dean
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