Ploetzlich Mensch
die Menschen, die damals bei dieser schrecklichen Kat a strophe umkamen, und wie ihre Angehörigen diesen Schicksalsschlag verarbeitet haben.“
Er konnte wirklich lügen, ohne rot zu werden, stellte sie nicht ohne eine gewisse Bewunderung fest. Die alte Dame gab sich mit dieser E r klärung gern zufrieden und beantwortete bereitwillig alle weiteren Fr a gen. Sie überließ ihnen sogar eine Fotografie der Familie Maibaum, die sie bei einem Straßenfest aufgenommen hatte.
Eine Stunde später saßen sie wieder in Deans Sportwagen. Clara b e trachtete wie gebannt das Foto in ihren Händen. „Ich … ich wusste nicht einmal mehr, wie sie aussehen“, brachte sie schließlich mit b e bender Stimme hervor. „Ich wusste nicht mehr, wie meine Eltern au s sehen.“
„ Hey, hey, ist ja gut“, redete Dean beruhigend auf sie ein. Doch das Foto in ihrer Hand hatte einen emotionalen Damm gebrochen, der sich nicht so einfach wieder schließen ließ. Wut, Trauer und Verzwei f lung machten sich alle auf einmal Luft. Ihr Körper erbebte unter der Wucht der so lange verdrängten Emotionen. „Wie kann man das G e sicht seiner Eltern vergessen? Welche Tochter tut so was? Das … das ist alles meine Schuld! Ich war der Grund, warum sie damals im Te m pel waren. Ohne mich wären sie nie dorthin gegangen und wären nicht gestorben und ich trage den, der sie umgebracht hat in mir. Ich trage ihren Mörder in mir! Ich darf leben, weil ihr Mörder mich am Leben erhält. Das ist nicht fair!“
Die Welle der Emotionen, die auf sie einstürmten , war so groß, dass sie sie nicht mehr kontrollieren konnte. Der innere Schmerz und die grenzenlose Verzweiflung legten sich wie ein Schraubstock um ihre Brust und raubten ihr die Luft zum Atmen. Mit voller Wucht rammte sie ihren Kopf mehrere Male gegen die Seitenscheibe des Wagens.
Deans Ausruf des Entsetzens machte ihr klar, dass sie sich verletzt haben musste. Im nächsten Moment rissen seine Hände sie zurück und pressten ihren zitternden Körper gegen seine Brust.
„ Clara, um Himmels w illen, hör auf“, tönte seine Stimme von weit entfernt an ihr Ohr. Seine Worte drangen nur noch schwach durch den wabernden Nebel der Benommenheit, der sich dankbarerw eise um i h ren Geist gelegt hatte. Ihr Kopf schmerzte furchtbar und ein Rinnsal warmer Flüssigkeit, das an ihrer Nase herabrann, de u tete darauf hin, dass sie sich verletzt hatte. Doch das war ihr egal, denn diese Schme r zen überlagerten das, was tief in ihr brodelte und sie von innen her zu zerreißen drohte. Schwärze umfing ihren Geist und ließ sie in eine gnädige Ohnmacht fallen.
*
Dean gefiel nicht, wie sich die Dinge entwickelten. Es war definitiv ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Die Emotionen, die Clara mit diesem Ort verband, waren zu stark und damit eine akute Gefahr für das Leben aller hier. Schon als sie allein am Bach gestanden hatte, musste eine Erinnerung sie so bewegt haben, dass eine leuchtende A u ra ihren Körper umgeben hatte. Zum Glück war es ihm gelungen, sie aus ihren Gedanken zu reißen. Doch das Foto ihrer Eltern war mehr gewesen, als sie hatte verkraften können. Wenn sie nicht ohnmächtig geworden wäre, hätte er nicht gewusst, was er tun sollte. Sie mussten das hier so schnell wie möglich zu Ende bringen. Es war wirklich alle r höchste Zeit.
Dean startete den Wagen. Er erinnerte sich, bei der Einfahrt in den Ort die Werbetafel eines Hotels gesehen zu haben. Er würde ein Zi m mer für sie beide nehmen und dann endlich dieses verdammte Fra g ment an Clara zurückgeben. Vielleicht würde sie das stabilisieren und alles würde wieder in geordneten Bahnen verlaufen.
Das Hotel lag am anderen Ende des Ortes. Es war eine alte Wasse r mühle, die von einem romantisch plätschernden Bergbach angetrieben wurde. Doch die landschaftlich schöne Lage interessierte ihn mome n tan sogar noch weniger, als es sonst der Fall gewesen wäre.
„ Willkommen in der Glücklichen Mühle, mein Herr“, begrüßte ihn die blonde Elfe im Dirndl, die an der Rezeption saß, mit einem stra h lenden Lächeln, das sich gut in das völlig überladene Gesamtbild von Blümchen und Rüschendeko einfügte. „Wie kann ich Ihnen Ihren Tag versüßen?“ Nur mühsam unterdrückte Dean ein Augenrollen.
„ Ich hätte gern ein Zimmer für mich und meine Freundin“, sagte er knapp.
„ Oh, aber natürlich“, trällerte die Rezeptionistin begeistert und ließ ihre viel zu langen, rot lackierten Fingernägel über die
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