Ploetzlich Shakespeare
wie ich fest glaube, eine göttliche Fügung war. Ein Gaukler namens Kempe hielt Shakespeare davon ab, ins Wasser zu gehen.»
Und Kempe, so begriff ich nun, musste Shakespeare fortan immer wieder das Leben retten, da in ihm immer noch eine tiefe Todessehnsucht wohnte, die dafür sorgte, dass er sich stets in lebensgefährliche Situationen begab.
«Bei wem wachsen die Kinder auf?», wollte ich nun wissen.
«Sie werden von Tybalts Frau auf dessen Farm großgezogen.»
«Sie wohnen bei diesem schrecklichen Kerl?»
«Seine Frau hat große Güte. Und er selber wurde vor lauter Schuldgefühlen wahnsinnig. Er ist den ganzen Tag und die ganze Nacht bei den Schweinen seines Hofes.»
«Um sie zu füttern?»
«Um sie zu begatten.»
«Armes Schwein», rutschte es mir heraus.
«Arme Schweine», meinte Lorenzo.
«Die auch.»
Aber das ärmste Schwein war der Mann, dessen Körper ich bewohnte. Nach so einem Erlebnis würde er sein Herz wohl nie wieder jemandem öffnen können. Jetzt hatte ich schon wieder etwas über die gelernt: Man konnte sie verlieren. Für immer.
«Nun, da ich dir törichterweise eine Tragödie erzählt habe, die du bereits kennst», hob Bruder Lorenzo an, «musst du mir im Gegenzug einen Gefallen gewähren.»
«Ich werde es versuchen. Um was für einen Gefallen handelt es sich denn?»
«Mir den Teil der Tragödie zu schildern, den ich noch nicht kenne.»
«Wie bitte?»
«Tu nicht so unwissend! Du selbst hast mir in einem schwachen Moment erzählt, dass du auf dem Glockenturm Schuld auf dich geladen hast, wolltest mir aber nicht mehr darüber verraten. Seitdem grübele ich jeden Tag, welche Schuld es wohl sein mag. Du hast Anne nie betrogen, und du wolltest sie retten ... daher möchte ich jetzt von dir endlich wissen: Welche Schuld hast du auf dich geladen?»
Das würde ich auch gerne wissen.
41
Als ich erwachte, schlummerte Rosa noch. Ich verließ das Kloster und wanderte zu der großen Farm der Hathaways. Unsicher wartete ich nun auf dem Weg vor dem Anwesen: Sollte ich das erste Mal seit Annes Tod zu ihrem Grab gehen? Endlich Blumen darauf legen? So viel Kraft hatte ich nicht. Vielleicht könnte ich es wagen hinzugehen, wenn Rosa wieder bei mir war und ich nicht allein sein würde. Andererseits wäre dann Rosa diejenige, die zu Annes Grab geht, und nicht ich. Ich wünschte mir nun sehr, Rosa wäre ein Mensch und kein Geist und sie würde mich zum Friedhof begleiten.
Während ich darüber nachdachte, rannte ein Schwein quiekend an mir vorbei. Es war in panischer Flucht.
Im nächsten Augenblick rannte der verwirrte Tybalt dem Schwein hinterher und rief froher Laune: «Warte, mon amour!»
Es gab Zeiten, in denen ich diesen Tybalt gerne erwürgt hätte, nicht ohne ihm vorher noch demonstriert zu haben, wie unangenehm eine Kreuzotter in der Strumpfhose sein mochte. Doch jetzt neidete ich dem Schuft seinen Wahnsinn: Er wurde nicht von schrecklichen Schuldgefühlen geplagt wie ich und war glücklich bei den Schweinen, selbst wenn diese nicht glücklich wirkten.
Da öffnete sich das Haus, und ein blonder, zarter junge trat heraus. Hamnet. Mein Sohn. Er trug seine Schultasche. Hamnet ging in meine Richtung, und jetzt war ich doch froh, dass Rosa noch schlief und ich ihn selbst umarmen durfte. Der Kleine sah mich, rief frohgemut: «Papa!», warf die Schultasche beiseite und rannte auf dem Kiesweg auf mich zu.
Mein Herz war erfüllt von Freude: Gleich würde ich nach langer Zeit endlich wieder meinen geliebten kleinen Sohn umarmen, und ich würde ihn lange nicht mehr loslassen. Hamnet war nur noch wenige Schritte von mir entfernt. Ich streckte meine Arme aus, in glücklicher Erwartung, auch er streckte seine Arme aus, ebenfalls in glücklicher Erwartung, da...
«Uahh ... wie lange habe ich geschlafen?»
... übernahm Rosa wieder meinen Körper. Das Gespür für richtige Zeitpunkte war bei Rosa anscheinend recht unterentwickelt. Daher tobte ich vor Zorn.
«Was regst du dich so auf?», gähnte ich. Und kaum hatte ich das gefragt, lief mir etwas vors Schienbein.
«Deswegen.»
Ich blickte hinab und sah den kleinen blonden Jungen aus Shakespeares Medaillon, nur diesmal live und in Farbe. Er blickte mich sehr enttäuscht an.
«Umarme ihn...»
Ich schaltete nicht so schnell. Der Junge sah mich traurig an und sagte: «Du warst lange nicht mehr bei mir, Papa!»
«Umarme ihn endlich...», bat ich nun flehentlich.
Natürlich wollte ich Shakespeare diesen Gefallen tun. Also umarmte
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