Polar Star
Spirituosenhandlung im Parterre, vor deren Betreten die Mannschaft der Polar Star allerdings nachdrücklich gewarnt worden war.
»So was wie das Hotel da drüben haben wir zu Hause auch. Ein Seemannsheim, kostet zehn Kopeken die Nacht. Ich wüßte gern, wieviel die hier verlangen?«
»Und mich würde interessieren, mit wieviel Mann man sich da ein Zimmer teilen muß.«
Das Obergeschoß des Hotels war ein Stück vorgebaut, so daß ein überdachter Gehweg entstand, der den Passanten in der Regenzeit oder bei Schneefall Schutz bot. Freilich würde sich die Bevölkerung von Dutch Harbor wohl ab November, wenn die Fischsaison zu Ende ging, um die Hälfte verringern.
»Es ist wahrscheinlich einfach so, daß ein Ort, von dem man ein Leben lang nur erzählen hört, einem irgendwie märchenhaft vorkommt. So ist es auch einem Freund von mir gegangen, der eine Reise nach Ägypten gemacht hat. Vorher hat er begeistert alles mögliche über Pharaonen und Tempel und Pyramiden gelesen. Aber als er dann wieder zurückkam, hatte er sich die schrecklichsten Krankheiten geholt.«
»Pscht, sei still, da kommt eine von hier.«
Eine etwa dreißigjährige Frau ging auf den Laden zu. Ihr aufgehelltes Haar war stark toupiert, die Lippen hatte sie zu einem Schmollmund geschminkt. Trotz der Kälte trug sie nur eine kurze Kaninchenfelljacke, dazu Jeans und Cowboystiefel. Der Kreis sowjetischer Kosmopoliten bewunderte die Aussicht. Ein Afrikaner hätte mit gezücktem Speer auf sie zukommen können, ohne daß sie den Blick von der Bucht abgewandt hätten. Erst als die Frau schon ein gutes Stück vorbei war, schauten sie ihr nach.
»Nicht schlecht.«
»Aber auch nicht anders als unsere Frauen.«
»Was ich sage. Besser ist es hier auch nicht.« Der Sprecher bohrte fachmännisch seinen Absatz in den Schlamm, holte tief Luft und maß das schäbige Hotel, die Hügel und die Bucht mit abschätzigem Blick.
»Mir gefällt’s.«
Einer nach dem anderen traten sie ihre Zigaretten aus, teilten sich stillschweigend in die vorgeschriebenen Vierergruppen, machten sich gegenseitig mit Nicken und Achselzucken Mut und marschierten nacheinander zurück in den Laden. »Ich wüßte nur gern«, sagte einer, schon auf der Schwelle, »ob es diese Stiefel auch hier zu kaufen gibt.«
Arkadi dachte an den Schluß von »Schuld und Sühne«, wo der gerettete Raskolnikow auf dem Uferdamm steht und aufs Meer hinausschaut. Vielleicht hatte Dostojewskis Porträt des scharfsichtigen Untersuchungsrichters Porfirij sein Teil dazu beigetragen, daß er selbst Ermittlungsbeamter geworden war; und doch stand er nun hier und war in der Mitte seines Lebens aufgrund einer Laune des Schicksals plötzlich kein Gesetzesvertreter mehr, sondern ein Krimineller, zwar nicht überführt, aber verurteilt, und genau wie Raskolnikow blickte auch er hinaus auf den Pazifik, nur eben von der entgegengesetzten Seite. Wie lange würde es dauern, bis Wolowoi ihn aufs Schiff zurückbringen ließ? Sollte er sich am Boden festkrallen wie eine Krabbe, wenn sie kamen, um ihn zu holen? Jedenfalls wollte er nicht wieder zurück, soviel wußte er. Es war so erholsam, im Schatten eines Hügels zu stehen und die Gewißheit zu haben, daß dieser Hügel fest im Erdreich verankert war und einem nicht unter den Füßen weggleiten konnte wie eine Welle. Das Gras, dessen Halme sich anmutig in der Brise wiegten, würde morgen noch immer auf demselben Hügel stehen. Die Wolken würden sich um dieselben Gipfel sammeln und bei Sonnenuntergang flammendrot aufleuchten. Der Schlamm würde, je nach Jahreszeit, gefrieren oder tauen, aber er würde hier bleiben.
»Wahrhaftig, Sie sind es! Ich dachte schon, ich sehe nicht richtig.« Susan war aus dem Hotel getreten und kam über den Platz auf ihn zu. Ihre Jacke, die, die sie geschenkt bekommen hatte, als sie von Bord gegangen war, hing schief und zerknittert von ihren Schultern, ihr Haar war zerzaust, und ihre Augen schienen aufgewühlt, als hätte sie geweint. »Aber dann hab ich mir gesagt: >Natürlich ist er hier!< Ich meine, ich wäre um ein Haar drauf reingefallen, daß einer aus der Schmutzbrigade tatsächlich, vor langer Zeit einmal Detektiv gewesen ist. Und Englisch spricht. Schließlich wäre so jemand genau der Mann, der sich so in die Nesseln setzen könnte, daß man ihm nicht mal mehr ein Visum für den Landgang bewilligt. Wäre doch immerhin denkbar. Aber dann sitze ich da unten, und als ich zur Tür rausschaue, wen sehe ich? Sie! Und Sie stehen da, als
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