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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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über Schwindelanfälle oder Kopfschmerzen geklagt habe. Was er bejahte. Dr. Wainu hatte die Verstorbene zuvor obduziert. Ich fragte ihn, ob die Autopsie irgendwelche Anzeichen auf Verletzungen ergeben habe, die sich eindeutig nicht auf einen Unfall zurückführen ließen. >Nein<, sagte er. Gab es irgendeinen Befund, den er schwer erklärbar fände? fragte ich. Ja, da seien Verfärbungen an Rumpf und Gliedern sowie blaue Flecken in gleichmäßigem Abstand zueinander an Brust und Hüften, die er sich nicht recht erklären könne. Außerdem ein kleiner Einstich im Unterleib.
    Genossen, ich darf Sie beruhigen, nichts von alledem ist im Moment noch rätselhaft. Ich selbst habe Sina Patiaschwilis Schritte in der Nacht ihres Verschwindens rekonstruiert. Weder auf den Korridoren, die zu ihrer Kabine führen, noch auf dem Trawldeck hat man sie gesehen. Sie kann also nur zum Heck gegangen sein. Wäre sie dort nun direkt über die Reling ins Wasser gefallen, ja, dann ließen sich die Verletzungen an ihrem Körper tatsächlich schwer erklären. Aber Sina Patiaschwili, die allein dort oben in die Dunkelheit hinaustrat, fiel nicht über die Seitenreling, sondern über das Geländer am offenen Treppenschacht über der Heckrampe und schlug im Sturz mit dem Hinterkopf auf. Als ihr Körper dann die Stufen hinunterrutschte, zog sie sich auch noch Prellungen an Gliedern und Rumpf zu.«
    Ein sehr hilfreiches »Auch«, dachte Arkadi. Martschuk studierte mit ernster Miene den Autopsiebefund auf seinem Schreibtisch. Arkadi hatte fast Mitleid mit ihm. Viktor Martschuk wäre ohne Parteiausweis niemals Kapitän geworden, und mit den Amerikanern ließ man ihn nur fischen, weil er darüber hinaus auch noch Parteiaktivist war. Ein ehrgeiziger Mann, aber ein Kapitän mit echtem Seemannsblut. Der unbekannte Gast im dritten Sessel hielt den Kopf in die Hand gestützt. Auf seinem Gesicht lag der verständige Ausdruck eines Menschen, der sich selbst an den falschen Tönen im Klavierkonzert eines Amateurs erfreuen konnte.
    »Die Treppe hat aber doch einen Absatz«, sagte Martschuk.
    »Genau.« Slawa nickte bestätigend. »Und auf dem blieb Sina Patiaschwili liegen, solange das Fest andauerte. Und zwar lag sie mit dem Körper gegen das Außengeländer genau dieses Treppenabsatzes gepreßt, was die blauen Flecke an Brust und Hüften erklärt. Als das Fest dann vorüber war und die Polar Star ihre Arbeit wiederaufnahm, brachte die Erschütterung des Schiffes den Körper ins Rollen. Wie Sie alle wissen, verwenden unsere Konstrukteure viel Mühe darauf, für unsere sowjetischen Seeleute die sichersten Schiffe der Welt zu bauen. Leider kann man nicht jeden außergewöhnlichen Vorfall vorhersehen. Und so gibt es denn auch keinen Geländerschutz an der Innenseite des Treppenabsatzes. Sina Patiaschwili rollte also weiter hinunter und stürzte auf die Rampe. Weiter oben hat die Rampe ein Sicherheitsgitter, das verhindert, daß jemand vom Trawldeck fallen kann, doch das nützte der Ärmsten nichts, da sie ja den Treppenschacht hinunterstürzte. Sina Patiaschwili konnte wohl nicht mehr um Hilfe rufen, denn aller Wahrscheinlichkeit nach war sie bewußtlos, und so rutschte sie über die Rampe hinunter ins Wasser.«
    Slawa referierte seine Schlußfolgerungen, als handele es sich um ein Hörspiel. Unwillkürlich sah Arkadi die Szene vor sich: Das Mädchen aus Georgien in seinen Jeans und mit dem gebleichten Haar flüchtete aus dem Qualm und der Hitze der Cafeteria; benommen starrte sie in die wattige Leere des Nebels, trat unbedacht ein paar Schritte zurück bis zum Geländer am Treppenschacht . Nein, das konnte er, offen gestanden, nicht sehen. Nicht Sina, das Mädchen mit der Herzdame in ihrer Tasche, nicht ganz allein, nicht so.
    Unvermittelt fragte der Kapitän: »Was halten Sie von dieser Theorie, Genosse Renko?«
    »Sehr spannend.«
    Slawa fuhr fort: »Erfahrenen Seeleuten brauche ich nicht zu erklären, daß und warum Sina Patiaschwili in diesen eisigen Gewässern nur ganz kurz überlebt haben kann. Sagen wir, fünf Minuten? Allerhöchstens zehn. Der einzig ungelöste Punkt bleibt mithin die Einstichwunde in ihrem Unterleib, eine Wunde, auf die uns Genosse Renko hingewiesen hat. Nun ist Renko allerdings kein Fischer und nicht erfahren oder vertraut mit Trawlgeräten. Hat er je mit einem Kabel hantieren müssen, das völlig durchgescheuert ist, nachdem es vierzig Tonnen Fisch über den felsigen Meeresgrund geschleift hat?«
    Aber ja doch, dachte Arkadi, wollte

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