Polarrot
Schweiz.
Nur, da es nicht endlos viele Grenzübergänge über den Doubs gab, würden die Zollbeamten wohl bald Verdacht schöpfen. Und so entschloss sich Yves, Tageskarten zu fälschen, und Breiter sollte die Flüchtlinge in seinem Traction Avant mitnehmen. Auch dies funktionierte reibungslos, Breiter hatte seine Panikattacken im Griff und verdiente zu seiner und Elsies Freude dreiviertel ihres finanziellen Jahresbedarfs innerhalb von zwei Wochen. Elsie fand, dies sei eine weitere Kuh wert.
Elsie bekam ihre Kuh. Leni. Bezahlt aus dem Kässeli „Träume“.
Leni hatte aber auch noch Anderes im Sinn, als ihr ganzes Leben mit Kalben und Milch geben zu verbringen. Ihre Abenteuerlust war weder von Zäunen aus Stacheldraht noch aus Holzlatten zu zähmen, was zum einen und anderen ernsten Gespräch mit Pierre führte. Bevor die Angelegenheit gänzlich daraufhin steuerte, dass eines Morgens drei Kühe und ein halbfertiges Kalb an der Türfalle von Breiters Stall angebunden sein würden, kam ihm die Idee, dem Vieh ein Brett vor den Kopf zu binden. So wurde der Leni die Sicht auf die freie weite Welt auf der anderen Seite der Zäune genommen und ihr Blick stattdessen ausschließlich auf das satte Juragras eingeschränkt.
Die letzten Schneeverwehungen hatte die kräftige Frühlingssonne erbarmungslos weggebrannt, die Weiden wurden grüner und grüner, Krokusse und Maiglöckchen allenthalben, Vogelscharen kamen aus ihren südlichen Winterquartieren zurück, und die Republik Frankreich saß wie das in Todesstarre verharrende Kaninchen vor der Schlange und wartete darauf, hinuntergewürgt und in einem endlosen Verdauungsprozess zu einem achtlos ausgestoßenen Häufchen Kot verarbeitet zu werden.
Und so nahmen gegen Ende März 1940 die Weinbestellungen zu, da die Wirte der Gegend mit einem baldigen Angriff Hitlers rechneten und deshalb mit einer neuerlichen Grenzbesetzung durstiger Soldaten und Offiziere.
Am Morgen des 10. Mai 1940 lag Elsie neben Breiter erkaltet im Bett. Er schüttelte sie, versuchte sie aufzurichten, warf ihr Wasser ins Gesicht, schließlich brach er heulend über ihr zusammen und schluchzte in ihren leblosen Schoß.
Ja, sie hatte schon seit Tagen geklagt, sie fühle sich nicht wohl, er hätte sie zu einem Arztbesuch drängen müssen, der Husten war arg gewesen, das Fieber dagegen nicht besorgniserregend hoch und vorgestern und gestern waren die Grippesymptome ja abgeflaut.
Der Arzt, der Elsies Tod amtlich festhielt, meinte lakonisch, dass es öfters vorkäme, dass eine Grippe auf das Herz überspringe.
Zur Beerdigung kamen nur Yves und Pierre, der Widerwillen des Pfarrers der ihm völlig unbekannten Toten gegenüber war unüberhörbar und die Abdankung entsprechend kurz.
Breiter lud die beiden zu sich, Yves steuerte ein paar Flaschen Bordeaux, Pierre Wurst und Käse bei und auf Elsies Wesen, Liebe und eigene Schönheit wurde derart oft angestoßen, dass Breiter sternhagelvoll ins leere Bett und in einen trunkenen, traumlosen Schlaf fiel.
Am anderen Morgen wäre es ihm schnurzegal gewesen, wäre er nie mehr aufgewacht. Am Nachmittag saß er die ganze Zeit vor dem Haus auf der Bank und rauchte unablässig. Am Abend schüttete er zwei weitere Flaschen Wein in sich hinein, schlug sich beim zu Bett gehen am oberen Treppenabsatz das Knie auf und beschloss, dass es so nicht weitergehen könne.
Am nächsten Tag fuhr er zu Yves. Die Grenzer waren angespannter als sonst. Da und dort ein kleiner Scherz, wann er die nächste Flasche Wein bringen würde, ob er ein wenig Schokolade dabei habe und unter Gelächter, die Kondome seien auch schon seit Stunden wieder aufgebraucht.
Er holte Yves im Gemeindeamt ab, und sie setzten sich ins Wirtshaus.
„Yves, die Deutschen werden bald da sein.“
„Ach wo, wir haben die Maginot-Linie.“
„Yves, glaub mir, die werden bald da sein.“
„Die kommen da nicht durch.“
„Die kommen über Belgien, wie das letzte Mal.“
„Aber sie kamen nicht bis hierher.“
„Doch. Und viel schneller als du denkst.“
„Wir haben viel bessere Verteidigungsanlagen.“
„Jetzt hör mir mal zu: Das ist nicht wie das letzte Mal. Hast du gesehen, wie schnell es mit Polen gegangen ist? Luftwaffe bombardiert, Panzer hinterher und dann Bodentruppen. Da ist alles in Bewegung, nichts mit eingraben.“
„Was weißt denn du?“
„Yves, ich bin zwei Jahre durch Deutschland gereist und habe genug gesehen. Glaub mir. Denk lieber darüber nach, was du machen willst, wenn sie da
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