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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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Sender und Empfänger machte Yves keine Mühe. Dafür brauchte er keine Instruktionen. Allerdings waren die Kenntnisse über Telegrafen bei Funkgeräten nur beschränkt nützlich. Folglich probierte er die ganze Bandbreite an Frequenzen aus, hörte verschlüsselte deutsche und schweizerische Funksprüche, lauschte, was die Schweizer Luftwaffe sich so alles zu sagen hatte und bekam mit, wie französische Stimmen aus London verklausulierte Sätze in den Äther stießen. Aber all dies kam eher selten vor, denn die meiste Zeit war nur ein Rauschen zu vernehmen, und schon gar nicht der Satz, auf den er sehnsüchtig wartete: „Juliette a cinq vaches.“
    Unterdessen hatte Breiter seinen Dachstock zur Kabine eines Panzers umgebaut. Im letzten Moment war ihm beim Anschließen der Geräte klar geworden, dass Sender wie Empfänger für eine 12-Volt-Spannung gebaut waren. Folglich konnte er die mühsam in den Dachstock verlegte 110-Volt-Leitung gar nicht benützen, außer – außer er fände einen Transformer.
    So rasierte er sich, schnitt mit stumpfer Schere die Haare nach, tauschte seine Stallkleider gegen einen Anzug und machte sich per Bahn nach Solothurn auf.
    Nachdem er in der Altstadt einen Frisör aufgesucht hatte, meldete er sich für einen Besuch bei Nagel bei der Phonfam an, was diesen freute. So verkaufte er Breiter auch zwei Transformer – für spezielle Stalllampen, welche die Kühe zu kriegswirtschaftlich wichtigen Mehrleistungen antreiben sollten, wie dieser ausführte – zum Fabrikpreis. Dazu erstand er einen Radioapparat (Kurz-, Lang- und Mittelwelle). Ebenfalls zum Fabrikpreis. Und er verwickelte Nagel in ein Gespräch über das Funken, das dank Nagels Begeisterung für den Funk ergiebiger war, als jede deutsche Betriebsanleitung für Panzerfunker.
    Zu Hause wechselte er den Anzug wieder gegen Stallkleidung, versorgte die Kühe, ging schlafen, rasierte sich nicht mehr und bastelte am anderen Tag die ganze Anlage mit aus- und einfahrbarer Antenne zusammen. Am Abend funktionierte alles und Breiter horchte in die Welt hinein, die wie zehn Kilometer gegenüber hauptsächlich aus Rauschen bestand.
    Es wurde ein strenger Winter, der Schnee lag monatelang, das Brennholz wurde schweizweit knapp. Breiter hatte allerdings genug, dank Pierre und seinem Insistieren, den ganzen September für den Holzschlag zu nutzen.
    Am 23. Januar 1941 vernahm er mit Freude, dass britische Truppen die lybische Stadt Tobruk eingenommen und 25.000 Italiener gefangen genommen hatten. Aber „Juliette a cinq vaches“ vernahm er nicht, obwohl er jede mögliche Frequenz absuchte.
    Yves war es einfach zu kalt und unwirtlich, um die Scheune aufzusuchen. Zudem wollte er keine Spuren im Schnee hinterlassen, und außerdem musste er sparsam mit seinem Vorrat an Autobatterien umgehen.
    Am 26. März 1941 verkündete der deutsche Sender, Rommel habe die lybische Stadt El Agheila erobert. Und im Funk vernahm Breiter auf einer Frequenz, dass eine Juliette fünf Kühe habe. Er wurde hellwach, stellte die Empfangsfrequenz auf seinem Sender gleich und sprach ins Mikrofon: „Juliette a cinq vaches.“
    Einen Augenblick wie eine Ewigkeit dauerte es, bis Yves realisierte, dass da drüben, hinter dem steil abfallenden, von markanten Kalkfelsbändern durchzogenen Talhang Juliettes Kühe auf einen Melker stießen.
    „Juliette a cinq vaches“, sprach Yves nochmals ins Mikrofon und wartete gespannt.
    „Salut Monsieur Boucle“, krächzte es zurück.
    Yves musste schmunzeln. „Salut Monsieur S’Elagier.“
    „Eine Woche?“
    „Luft?“
    „Luft.“
    „Eine Woche.“
    „Salut Monsieur Boucle.“
    „Salut Monsieur S’Elagier.“
    Breiter fühlte sich schlagartig nicht mehr so allein. Ohne Absprache redeten sie kurz und für andere unverständlich. Sie waren sich beide des Risikos bewusst. Das tat gut.
    Erregt und aufgekratzt ging er in den Stall, redete mit den Kühen, hob Lenis Brett und kraulte ihren breiten Nasenrücken, schwärmte Charel von den satten Wiesen, die auf sie warteten, vor, versprach ihr, sie nie zu schlachten, verhieß allen bald, den Stier zu holen und gab jeder noch eine Extraportion Heu.
    Am anderen Tag – es war feucht und der Nebel schlich vom Doubs her durch die Bäume der abschüssigen Hänge hinauf – packte er seinen Rucksack und machte sich auf, zum Fluss hinunterzusteigen.
    Es war steil, es war rutschig, es war gefährlich. Er verirrte sich, kam aus dem Wald, sah das Kraftwerk La Goule, sah Soldaten auf beiden Seiten

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